1000 Tage Widerstand
Bildung inmitten von Krieg: Kraft trotz Tränen und Ermüdung
Anfang September habe ich eine 9. Klasse übernommen. Es war meine erste Begegnung mit den Schülerinnen und Schülern, aber ich wusste schon von meinen Kolleginnen und Kollegen, dass die Kinder sehr aktiv sind. Sie haben einen Leseclub in der Klasse und gehen gemeinsam ins Theater und ins Kino, also war ein Schreibkurs genau das Richtige für sie. Ich bereitete einige Einführungsübungen vor – kleine Aufwärmübungen zum Schreiben, die lustig genug waren, um bei allen die Freude am Schreiben zu wecken. Aber meine Schülerinnen und Schüler saßen mit müden Augen da und machten die Übungen nur passiv mit. Zwar gewissenhaft, aber ohne richtigen Einsatz. Es war, als könnte ich die Frage in ihren Gesichtern lesen: Wie lange noch bis zur Pause?
Völlig verwirrt verließ ich die erste Stunde. Auf dem Flur begegnete ich einer Schülerin, die mit derselben Gleichgültigkeit etwas mit ihrer Freundin besprach.
„Wir sehen uns in einer Woche“, sagte ich. Doch nach einer Sekunde fragte ich nach: „Geht es euch gut?“
Ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern, antwortete das Mädchen: „Ja, ich will einfach nur schlafen. Das kommt alles vom Luftalarm in der Nacht.“
In meinem Kopf fügten sich sofort alle Puzzleteile zusammen. Luftalarm. Die zweite Stunde. Teenager. Schule? Schreibkurs? Sie wollen einfach nur schlafen.
Ich lächelte schüchtern und ging zu einem kurzen Treffen mit der Schulleiterin, um ihr meine Eindrücke von der ersten Stunde und der Klasse zu schildern. Meine Eindrücke überraschten sie nicht im Geringsten. Nachdem sie sich meine Geschichte angehört hatte, antwortete sie: „Diese Kinder sind jetzt so müde, als ob es schon Mai wäre. Aber es ist erst September und sie sind gerade erst aus den Ferien zurückgekommen."
Ich schreibe diese Zeilen, während in Kyjiw wieder der Alarm ertönt. Die ganze Nacht über hatte man russische Shaheds (Kamikaze-Drohnen) über der Hauptstadt abgeschossen. Im Oktober zum Beispiel gab es nur einen Tag ohne Drohnen, die uns nachts quälen. Jeder hat sein eigenes System, um diese Herausforderung zu meistern: sich sofort in den Flur, ins Bad oder in den Keller legen, Dinge für den Luftschutzkeller vorbereiten – oder es ignorieren und dem Grundsatz folgen „Wenn es kommt, kommt es.“ Das mag natürlich seltsam klingen. Aber wir leben nun schon seit fast drei Jahren unter der permanenten Bedrohung von Beschuss und Luftangriffen. Es ist schwierig, bei jedem Alarm in den Luftschutzkeller zu gehen – das würde bedeuten, dass wir fast nie genug Schlaf bekämen.
All dies wirkt sich natürlich auch auf unseren Gemütszustand aus. Nicht immer ist uns selbst das Ausmaß unserer Müdigkeit und Erschöpfung bewusst. Aber es ist groß, das zeigen auch zahlreiche Studien. Die First Lady Olena Selenska, die für das nationale Programm für psychische Gesundheit „Geht es dir gut?“ verantwortlich ist, nannte beispielsweise folgende Zahlen: Mehr als 90 % der Ukrainerinnen und Ukrainer haben mindestens eines der Symptome einer Angststörung, und 57% sind gefährdet, psychische Störungen zu entwickeln.
Eine repräsentative Umfrage unter Lehrkräften der Klassen 5 und 6, die wir gemeinsam mit der Ilko-Kucheriv-Stiftung „Demokratische Initiativen“ durchgeführt haben, ergab, dass die meisten ukrainischen Lehrkräfte erschöpft sind. Sie haben z.B. den Gestaltungsspielraum, Lehrpläne zu erstellen, tun dies aber meist nicht. Ihnen fehlt die Motivation (50% der Befragten gaben dies an); 78% der Befragten gaben an, dass Gefühle wie Angst, Furcht, Traurigkeit oder Wut bei ihnen zunehmen. Dass der Krieg im Lehreralltag omnipräsent ist, zeigt sich auch daran, dass 69,5% der befragten Lehrkräfte ihre Fähigkeiten verbessern wollen, sich selbst und ihren Schülerinnen und Schülern erste Hilfe zu leisten.
Zur Unterstützung von Lehrkräften, Schulkindern und Eltern werden im Land Programme zur psychischen Gesundheit durchgeführt. Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit unterstützt uns hier mit dem Programm „Smart Education“. So haben wir im Jahr 2023 ein Weiterbildungsprogramm mit dem Titel „Psychosoziale Unterstützung für Pädagogen“ entwickelt.
Es basiert auf dem Fünf-Schritte-Ersthelfer-Modell, das in der Ukraine als Teil des universellen Trainings für psychische Gesundheit eingeführt wurde. Es vermittelt den Lehrkräften die Fähigkeit, psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen zu erkennen, Kontakt aufzunehmen, sie zu unterstützen und sie gegebenenfalls an professionelle Hilfe zu verweisen.
Etwa tausend Lehrkräfte haben das Programm absolviert und sind nun in der Lage, sich selbst, ihren Kolleginnen und Kollegen sowie den Schulkindern wirksam zu helfen.
Der Bedarf dafür ist sehr unterschiedlich. Stellen Sie sich vor, dass ein Kind, dessen Vater, Mutter, Bruder oder Großvater an der Front ist, im Klassenzimmer sitzen könnte. Oder ein Kind, das seine Familie verloren hat. Es gibt Klassen, in denen Schulkinder um ihre Klassenkameraden trauern – während der groß angelegten Invasion hat Russland 585 ukrainische Kinder getötet und 1.673 verwundet. Eine Lehrkraft muss in der Lage sein, in einem solchen Klassenzimmer zu arbeiten, zu unterstützen und zu unterrichten.
Ukrainische Bildungsaktivistin Halyna Tytysh erhält den Walter-Scheel-Preis 2022
Seit dem 24. Februar 2022 sind mehr als acht Millionen Menschen geflohen, darunter unzählige Kinder. Halyna Tytysh unterstützt sie dabei, auch während des Krieges Zugang zu Bildung zu erhalten. Mit ihrer Organisation „Smart Osvita“ bietet sie seit Jahren Kurse für Lehrkräfte und Schulleitungen an. Ihr Enthusiasmus steckt an und hilft dabei, Kindern ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Für ihr Bildungsengagement im Zeichen des russischen Angriffskrieges erhielt Halyna Tytysh von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, der Walter-Scheel-Stiftung und dem Freundeskreis Walter Scheel e.V. den Walter-Scheel-Preis 2022.
Intervallunterricht
In der Ukraine wird seit fast drei Jahren parallel zu einem groß angelegten Krieg Unterricht durchgeführt. Der Unterricht ist je nach Sicherheitslage von Region zu Region sehr unterschiedlich. Schülerinnen und Schüler, die in der gefährlichsten „roten“ Zone (in der Nähe des Kriegsgebiets, in den an Russland angrenzenden Regionen) leben, haben Fernunterricht. Und es kommt vor, dass in einigen Gemeinden schon seit der Covid-Pandemie Fernunterricht stattfindet. Es gibt Kinder in der 5. Klasse, die ihre Lehrkräfte und Klassenkameraden bis heute nie persönlich gesehen haben.
Schülerinnen und Schüler in anderen Regionen lernen in Präsenz oder in gemischten Formaten: Wenn die Schule über einen Schutzraum verfügt, besuchen die Kinder den Unterricht offline; wenn der Schutzraum weniger Personen aufnehmen kann als die Anzahl der Schulkinder in der Schule, lernen die Kinder in einem gemischten Format (d. h. einen Teil der Zeit aus der Ferne, von zu Hause aus, und einen Teil der Zeit im Klassenzimmer). Einige Schulen verfügen über keine Schutzräume, so dass die Kinder dort ausschließlich aus der Ferne lernen können, auch wenn die Region weit von der Frontlinie entfernt ist.
Alle am Bildungsprozess Beteiligten leiden unter den Luftangriffsalarmen und dem Stress des Krieges. Wenn also ein Luftangriffsalarm ertönt, müssen Schulkinder und Lehrkräfte in den Schutzraum gehen. Wenn die Lehrkräfte in der Lage sind, den Unterricht im Schutzraum fortzusetzen, tun sie dies. Ist dies nicht der Fall, kehren die Kinder auf ihre Schulbänke zurück und nehmen den Unterricht wieder auf, wenn die Gefahr vorüber ist. Man muss hinzufügen, dass die Schulen oft nicht in der Lage sind, den Unterricht während der Luftangriffe so zu organisieren, dass mehrere hundert Schulkinder sich nicht gegenseitig stören. Das ist äußerst schwierig, denn es muss ein abgetrennter Raum vorhanden sein, aber die Keller und Schutzräume wurden vor langer Zeit gebaut und sind nicht dafür ausgelegt. Das bedeutet, dass die Schulkinder Zeit zum Lernen verlieren.
Manchmal dauert der Alarm mehrere Stunden an, und die Schulkinder haben keine Chance, den Lehrstoff in der Schule zu bewältigen. So sind sie gezwungen, zu Hause nachzuarbeiten. Wenn dies nicht geschieht, häufen sich die Bildungsdefizite. Die Tatsache, dass Kinder nicht ausreichend Wissen und „Soft Skills“ vermittelt bekommen, führt dazu, dass sie die Möglichkeit verlieren, ihre Talente und Fähigkeiten zu entwickeln. Für das Land bedeutet dies eine Verschlechterung des Humankapitals. Nach Angaben der Weltbank, der EU und der UN belaufen sich die Bildungsverluste von Februar 2022 bis Dezember 2023 bereits auf 5,5 Milliarden US-Dollar (UKRAINE Third Rapid Damage and Needs Assessment (RDNA3).
Die größten und schwerwiegendsten Verluste sind für die Studenten zu verzeichnen, die online studieren. Kürzlich habe ich einen (ebenfalls von der Naumann-Stiftung unterstützten) Podcast mit einem der besten Biologielehrer der Ukraine aufgenommen. Ruslan Shalamov ist nicht nur Mitautor aller neuen staatlichen Unterrichtsstandards der Ukraine, er schreibt auch Lehrbücher und unterrichtet an einer kommunalen Schule. Unter seinen Schulkindern gibt es viele Sieger der Schulwettbewerbe. Aber Herr Shalamov lebt in Charkiw, im Osten der Ukraine. Diese Stadt wird von der Russischen Föderation regelmäßig und schwer beschossen. Deshalb lernen seine Schülerinnen und Schüler seit drei Jahren online. Sie sind widerstandsfähig und stark, wollen lernen und Preise gewinnen. Herr Shalamov stellt jedoch fest, dass ihr Niveau immer noch unter dem ihrer Altersgenossen liegt, die direkten Unterricht erhalten.
Um Bildungsverluste zu minimieren, führt die Ukraine Aufholprogramme durch. Aber die Situation ist so kompliziert, dass die Bemühungen des Staates und des öffentlichen Sektors nicht ausreichen. Die einzige Lösung besteht darin, den Krieg zu gewinnen, was die Rückkehr zu einem normalen Bildungssystem ohne Luftangriffe und endlosen Online-Unterricht ermöglichen würde.
- Zahl der funktionierenden Einrichtungen (die tatsächlich Bildungsdienstleistungen anbieten): 12.259 allgemeinbildende weiterführende Schulen
- Zahl der Schülerinnen und Schüler, die in funktionierenden Einrichtungen der allgemeinen Sekundarstufe lernen: 3.753.514 Schüler, davon:
Vollzeit (in der üblichen Form): 2 198 731,
in gemischten Formaten – 731.696,
Fernunterricht – 491.184,
weitere 331.903 bleiben im Ausland, lernen aber auch in der Ukraine - Anzahl der Einrichtungen, die sich im vorübergehend besetzten Gebiet befinden: 879
- Zahl der Lehrkräfte, die in funktionierenden Bildungseinrichtungen arbeiten: 370 948
- Personalausstattung der allgemeinen Sekundarschuleinrichtungen mit praktischen Psychologen und Sozialpädagogen: 83% haben einschlägige Fachkräfte
(Angaben des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft der Ukraine, Stand: 1.10.2024)
- Zahl der beschädigten allgemeinbildenden Sekundarschuleinrichtungen: 1663
- Zahl der vollständig zerstörten allgemeinbildenden Schulen: 201
(Angaben des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft der Ukraine, Stand: 10.10.2024)
Reform während des groß angelegten Krieges
Noch vor der russischen Invasion im Februar 2022 hat die Ukraine eine groß angelegte Reform des Sekundarschulwesens eingeleitet – die Neue Ukrainische Schule. Im Schuljahr 2017-2018 begannen alle Erstklässler mit dem Unterricht nach dem neuen Standard, mit neuen Lehrbüchern, in renovierten Schulräumen und mit Lehrkräften, die spezielle Fortbildungskurse absolviert hatten.
Im Jahr 2022 haben diese Schulkinder die Grundschule abgeschlossen und sind in die Klasse 5 gewechselt. Zu diesem Zeitpunkt war der Krieg bereits in vollem Gange, so dass die Reform nicht ordnungsgemäß vorbereitet werden konnte: Die Schulbücher konnten nicht gedruckt und ausgeliefert, die Lehrkräfte nicht ausgebildet, die Klassenräume nicht ausgestattet werden usw. Erschwerend kamen die Vertreibung von Schulkindern und ihrer Familien innerhalb des Landes und ins Ausland hinzu, der ständige Beschuss ukrainischer Städte und Dörfer, die Kämpfe an der Front und die Kürzungen bei den Bildungsausgaben. Der derzeitige ukrainische Minister für Bildung und Wissenschaft, Oksen Lisovyi, hat wiederholt erklärt, dass Bildung für die Regierung und den Staatspräsidenten die zweite Priorität ist. An erster Stelle steht die Sicherheit. Das bedeutet, dass maximale Anstrengungen (auch finanzieller Art) unternommen werden, um die Armee zu versorgen und das Land vor dem Aggressor zu schützen.
Im dritten Jahr des Krieges hat sich die Situation mit den Schulbüchern verbessert: Einige wurden auf Kosten des Staatshaushalts gedruckt, andere von Gebern gekauft. Es gab jedoch keine qualitativ hochwertige Ausbildung der Sekundarschullehrkräfte, keine ordnungsgemäße Prüfung der Schulbücher und ihres Drucks – alles geschieht unter großem Druck, in einer Situation finanzieller Zwänge und allgemeiner Erschöpfung.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es sich lohnen würde, die Reform auf Eis zu legen und sie in Friedenszeiten wiederaufzunehmen. Doch das ist unmöglich: Die Kinder lernen bereits nach dem neuen Standard und können nicht einfach auf den alten Standard umgestellt werden, der auf nur 11 Schuljahre ausgelegt ist, während nach der neuen ukrainischen Schulreform die Kinder 12 Jahre zur Schule gehen. Die Reform beinhaltet zudem eine Aktualisierung des Inhalts. Und trotz des Krieges geht die Reform weiter. Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen und Geber bemühen sich nach Kräften, die Umsetzung der Reform zu verbessern. Es geht um die Qualität der Bildung und um Investitionen in die Zukunft. Letztlich geht es um den Glauben an den Sieg, für den alle tun, was sie können, zum Beispiel, indem sie Kinder unterrichten und andere unterstützen.
„Das Schicksal lächelt nicht für Sklaven“
Meine Schülerinnen und Schüler sind wirklich sehr aufgeweckt, intelligent und initiativ. Aber jedes Mal, wenn ich in den Unterricht komme, mache ich zwei Dinge, die es vor dem Angriff nicht gab: Ich fange an mit Dehn- und Muskelübungen, damit sie auf jeden Fall wach werden. Und ich habe immer eine zusätzliche Variante des Lernstoffs dabei für den Fall, dass wir in den Schutzraum wechseln müssen.
Versuchen Sie sich einen Keller mit gestrichenen Wänden vorzustellen, in dem eine Klasse in einem engen Kreis um mehrere Tische herumsitzt, und daneben eine andere Klasse, und dann noch eine. Aber wenigstens kann man hier lernen – viele Schutzräume haben diesen Luxus nicht. An den Wänden des bemalten Kellers stehen Inschriften: „Krim ist Ukraine“, „Cherson, Luhansk, Donezk ist Liebe“. Einige davon wurden von Lehrkräften geschrieben (die Schule beschäftigt Binnenvertriebene aus den vorübergehend besetzten Gebieten), andere von Schülerinnen und Schülern.
An der Wand gegenüber jeder Insel mit Tischen und Stühlen befinden sich kleine Tafeln, auf denen die Lehrkräfte schreiben können. Über einer von ihnen ist eine Inschrift zu lesen: „Das Schicksal lächelt nicht für Sklaven.“ Eine Mahnung an alle, dass für Werte gekämpft werden muss, und Ungerechtigkeit nicht geduldet werden darf.
Halyna Tytysh ist Gründerin der Organisation „Smart Osvita“, die seit Jahren Kurse für Lehrkräfte und Schulleitungen anbietet. Als Russland die Ukraine überfiel, stellte sie auf Online-Kurse für Schülerinnen und Schüler im Alter von 6 bis 15 Jahren um. Für ihr Bildungsengagement im Zeichen des russischen Angriffskrieges erhielt Tytysh 2022 den Walter-Scheel-Preis.