Bildung
„Neue ukrainische Schule“ – Gewinn an Freiheit im Bildungssystem
Bettina Stark-Watzinger MdB, Vorstandsmitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, liegt das Thema am Herzen. Sie diskutierte am 30. Oktober in Kiew mit ukrainischen Experten zum Thema „Beste Bildung - Voraussetzung für eine freie Gesellschaft". Sie betonte dabei die fundamentale Bedeutung guter Schulbildung für die liberale Demokratie: „Wenn sich die Demokratie bei Ihnen weiter entwickeln soll, brauchen Sie selbständig denkende, verantwortlich handelnde Menschen." Von der begonnenen Schulreform zeigte sie sich beeindruckt: „Ich schaue ein bisschen neidvoll zu Ihnen, dass Sie so eine großen Anfang gemacht haben." Die Herausforderungen durch die globalisierte und digitalisierte Welt seien in der Ukraine nicht anders als in Deutschland: „Früher ging es darum, den Menschen etwas beizubringen, heute geht es darum, ihnen einen Kompass zu geben." Ihren Kiew-Besuch nutzte Frau Stark-Watzinger ebenfalls für Treffen mit liberalen ukrainischen Partnern der Stiftung.
2018 beginnt die Umsetzung einer umfassenden Reform des ukrainischen Schulsystems. Eine der Herausforderungen ist, dafür Akzeptanz zu schaffen. Zivilgesellschaftliche Initiativen wirken konstruktiv an diesem Prozess mit.
Sie steht nicht im Fokus internationaler Aufmerksamkeit und wird doch die ukrainische Gesellschaft mehr verändern als manch andere: die Reform des Schulsystems, deren Umsetzung mit dem Schuljahr 2018/19 begonnen hat. 2017 als Gesetz „Über die Bildung“ verabschiedet, wagt sie den Sprung von einem System reiner Wissensvermittlung zu einem kompetenzorientierten Ansatz, der das einzelne Kind in den Mittelpunkt stellt und junge Menschen für die Herausforderungen der Welt von morgen fit machen will.
Schule von gestern: Frontalunterricht und saubere Hefte
Fast drei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit der Ukraine trug das Schulsystem bisher noch viel vom sowjetischen Erbe mit sich: Bildung war zentral organisiert, der Unterricht frontal und auf das Erlernen von Faktenwissen ausgerichtet, das erstrebte „Endprodukt“ praktisch ein guter Industriearbeiter. Vermittlung von kritischem Denken, Problemlösungskompetenzen, Kreativität oder Kooperationsfähigkeit – Fehlanzeige. Es ging mehr um Regeln und Disziplin als um neue Ideen oder persönliche Entwicklung, Ordnung und Sauberkeit in den Heften der Kinder spielten oft eine größere Rolle als der Lernfortschritt selbst. Auch die Lehrerfortbildung war nicht angetan, pädagogische Konzepte fortzuentwickeln. In hohem Maße bürokratisiert, stellte sie zwar Fortbildungen aller Lehrer in einem Fünfjahresrhythmus sicher, beschränkte sich aber auf fachspezifische Kenntnisse und enthielt weder Lehrmethoden noch pädagogisches Wissen.
„Neue ukrainische Schule“: das Kind im Zentrum
Das durch die beginnende Reform eingeführte Konzept der „Neuen ukrainischen Schule“ geht nun einen neuen und deutlich an europäischen Vorbildern orientierten Weg. Der Hauptfokus liegt auf dem Erwerb von Schlüsselkompetenzen, zu denen neben Sprach- und naturwissenschaftlichen Kompetenzen auch IT-Kompetenz, Unternehmertum und Finanzwissen, ökologische Kompetenz sowie bürgerliche und soziale Kompetenzen gehören – letztere verbunden mit den Ideen von Demokratie und Menschenrechten, guter und gesunder Lebensweise sowie dem Bewusstsein für gleiche Rechte und Möglichkeiten.
Der Lehrer – verstanden als ein Mentor seiner Schüler – muss nicht mehr ein Programm abspulen, das ihm von der Bezirksebene vorgegeben ist. Er hat vielmehr die Freiheit, im Rahmen der vom Bildungsministerium definierten Lernziele die Aufgaben gemäß den Bedürfnissen seiner Schüler auszuwählen und zu gestalten.
Der Tagesablauf in der „neuen“ Grundschule gibt Raum für interaktive Lernformate. Wochenthemen ziehen sich durch mehrere Fächer und fördern die Verknüpfung der Lernprozesse; Gruppenarbeiten und „Lernen durch Tun“ lösen in Teilen den frontalen Unterricht ab. Nicht zuletzt spielt eine angenehme Lernumgebung eine wichtige Rolle, die die Kinder selbst mit gestalten und zu der etwa auch eine Ruhe- oder Erholungszone gehört.
Formal wird der verpflichtende und kostenlose Schulbesuch beginnend mit dem 2018 eingeschulten Jahrgang von elf auf zwölf Jahre ausgedehnt, die sich auf vier Jahre Grundschule, fünf Jahre Basisschule („Gymnasium“) und drei Jahre weiterführende Schule („Lyzeum“) verteilen. Die weiterführenden Schulen werden einen akademischen und einen berufsbezogenen Zweig haben und so bereits die spezifische Vorbereitung auf den weiteren Bildungsweg ermöglichen.
Nicht zuletzt fällt das staatliche Monopol auf die Lehrerfortbildung. In Zukunft können Lehrer staatliche Fortbildungsgelder auch bei nichtstaatlichen Anbietern einsetzen – ein System der Qualitätskontrolle muss hierfür allerdings noch entwickelt werden.
Erste Umsetzungsschritte
So vielversprechend die Reform dem Buchstaben nach klingt, so groß ist die Herausforderung, sie umzusetzen, denn insbesondere in der Lehrerschaft bestehen Ängste und Widerstände gegen die neuen Methoden, die erheblich erweiterte Freiheit und Selbstverantwortung in ihrer Arbeit. Werden die Kinder wirklich lernen wollen, wenn sie so viel Freiheit haben? Werden sie der Lehrerin nicht auf der Nase herumtanzen?
Bereits im Vorjahr wurde das Konzept der „Neuen ukrainischen Schule“ an 100 Pilotschulen, vier in jeder Oblast, mit je zwei ersten Klassen ausprobiert. Während die abschließende Bewertung der Pilotphase noch aussteht, zeigen vorläufige Ergebnisse bereits positive Effekte. Die Lernmotivation sei gestiegen und in den Bereichen Kommunikation, Teamwork und Präsentation von Arbeitsergebnissen erreichten die Erstklässler bessere Ergebnisse als Zweit- bis Viertklässler, die nach dem alten System unterrichtet wurden.
Vor der flächendeckenden Einführung der „Neuen ukrainischen Schule“ in allen ersten Klassen zum 1. September 2018 mussten deren Lehrer einen Onlinekurs absolvieren und bestehen, der etwa die Organisation des Klassenraums, Lehrmethoden für Erstklässler, neuropsychologische Kenntnisse und inklusive Unterrichtsansätze vermittelte. Das Interesse an diesem Kurs überstieg die Erwartungen bei weitem und zerstreute anfängliche Bedenken, dass er an der mangelnden IT-Kompetenz der Lehrer scheitern könne: Statt der nur 22.000 Erstklasslehrer dieses Jahres schlossen ganze 91.000 Teilnehmer den Kurs erfolgreich ab.
Zwei Fliegen mit einer Klappe: Korruptionsbekämpfung
Die Bildungsreform enthält neben neuen pädagogischen Konzepten auch mehrere Elemente, die der verbreiteten Korruption im Schulsystem entgegenwirken sollen. Aufgrund der notorischen Unterfinanzierung seit den 1990er Jahren verlangen Schulen finanzielle Beiträge von den Eltern, deren Ausgaben aber bisher nicht transparent und somit ein Quell von Korruption und Veruntreuung waren. Künftig sollen die Schulen finanzielle Autonomie und damit zusätzlichen Gestaltungsspielraum haben und ihre Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Elternbeiträge in einem jährlichen Finanzbericht offenlegen.
Demselben Ziel dient die Abschaffung der diskriminierenden und intransparenten Aufnahmetests für Erstklässler. In Zukunft werden die Kinder in die am Wohnort zuständige Grundschule eingeschult – übrigbleibende Plätze werden unter wohnortferneren Interessenten verlost.
Nicht zuletzt wirken die Beschränkung der Amtszeit für Direktoren auf maximal zweimal sechs Jahre sowie die Anhebung der Lehrergehälter auf das Zwei- bis Dreifache des Mindestlohns (welcher derzeit bei ca. 116 EURO liegt) korrupten Praktiken entgegen.
Politisch heikel: die Sprachenfrage
Internationale Aufmerksamkeit erlangte Artikel 7 des Gesetzes „Über die Bildung“, der Ukrainisch als die Bildungssprache des Landes festlegt. Die ungarische Regierung opponierte dagegen zunächst lautstark und bestand auf dem Recht, den Schulunterricht ausschließlich auf Ungarisch zu erteilen. Das Gesetz erlaubt Unterricht in Minderheitensprachen in der Vor- und Grundschule, sieht ab der 5. Klasse aber Unterricht in Ukrainisch vor, wobei auch hier die Möglichkeit besteht, ein oder mehrere Fächer in Sprachen der Europäischen Union zu erteilen. Während letztere Einschränkung ein sichtbar politisch motivierter Versuch ist, das Ukrainische gegenüber dem verbreitet gesprochenen Russischen zu fördern, kann der ungarische Diskriminierungsvorwurf nur als absurd bezeichnet werden und wurde nicht zuletzt von der Venedig-Kommission des Europarates zurückgewiesen. De facto hebt das Gesetz eine bisher bestehende Diskriminierung der Kinder auf, die in kompakten ungarischen Siedlungsgebieten in Transkarpatien bisher kaum Kontakt zur ukrainischen Sprache hatten und dadurch vom Besuch ukrainischer Universitäten, Tätigkeiten in der staatlichen Verwaltung und generell dem Arbeitsmarkt in anderen Landesteilen ausgeschlossen waren.
Zivilgesellschaftliche Träger der Reform
Die Bildungsreform ist ein weiteres Beispiel für die bemerkenswerte Rolle, die zivilgesellschaftliche Akteure in der Ukraine seit der Maidan-Revolution 2013/14 spielen. Erleichtert wird dies durch ein Bildungsministerium, das für die Kooperation aufgeschlossen ist und die Unterstützung gern annimmt. Organisationen wie „Smart Osvita“, „EdCamp“, „Osvitoria“ oder „EdEra“ haben aktiv an der Erarbeitung der Reform mitgewirkt, stellen Trainings für Lehrer zur Verfügung, vermitteln die Reform an lokale Behörden und übernehmen ganz wesentlich die Kommunikationsarbeit zur Reform, etwa die Erarbeitung von Informationsflyern und den Betrieb der offiziellen Internetseite „Neue ukrainische Schule“ (nus.org.ua). Auch der verpflichtende Onlinekurs für die Erstklasslehrer des aktuellen Jahrgangs wurde von einer NGO entwickelt.
Soll die Entwicklung einer freiheitlichen Demokratie in der Ukraine gelingen, muss sie wie jedes andere Land selbständig denkende, verantwortlich handelnde und zu Kooperation und Problemlösung fähige Menschen heranbilden. Die Umsetzung der Bildungsreform wird zwar voraussehbar noch erhebliche Hürden überwinden müssen – sei es den Mangel an Ressourcen, sei es altes Denken und Abwehrhaltungen vor allem in der Lehrerschaft. Ein Schritt in die richtige Richtung ist sie in jedem Fall.