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IQB-Bildungstrend
Bildungskrise nimmt zu

Grundschüler

Der deutsche Bildungs-Negativtrend korreliert mit soziodemographischen Risikolagen

© picture alliance / SvenSimon | Frank Hoermann/SVEN SIMON

Am Montag wurden die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2021 vorgestellt. Die im Auftrag der Kultusministerkonferenz durchgeführte Studie ist eines der wichtigsten Werkzeuge, um die Einhaltung von Bildungsstandards in den Fächern Deutsch und Mathematik zu überprüfen. Die Zahlen, die die Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) vorlegen, sind ernüchternd. Da die Tests verpflichtend sind und insgesamt knapp 27.000 Schülerinnen und Schüler der vierten Klassenstufe daran teilnahmen, sind die Zahlen trotz aller coronabedingten Einschränkungen sehr ernst zu nehmen. Der sogenannte Regelstandard im Bereich Lesen wird bundesweit nur von gut der Hälfte aller Schülerinnen und Schüler erreicht (58 Prozent), im Bereich Zuhören sind es 59 Prozent. In der Orthografie scheitert dagegen über die Hälfte am Regelstandard, hier liegt die Quote gerade einmal bei 44 Prozent. Besonders dramatisch wird das Bild, wenn man auf diejenigen Schülerinnen und Schüler blickt, die selbst den Mindeststandard verfehlen. Beim Lesen (19 Prozent), Zuhören (18 Prozent) und vor allem bei der Orthografie (30 Prozent) zeichnen sich erhebliche Lücken ab. In der Mathematik sieht das Bild ähnlich aus: 55 Prozent erreichen immerhin den Regelstandard, aber ganze 22 Prozent verfehlen den Mindeststandard.

Pandemie ist nicht der einzige Erklärungsfaktor

Ein Blick auf die Beispielaufgaben verrät, was dies konkret bedeutet: wer beim Lesen und Schreiben den Mindeststandard nicht erreicht, ist fast schon ein funktionaler Analphabet. So sollten die Prüflinge in einem Leserbrief den Satz „Das ist schlim, aber warum machen die das?“ korrigieren – für ein knappes Drittel, so legen die Befunde nahe, ist bereits dies zu viel verlangt – sinnentnehmendes Lesen bleibt sowieso eine Illusion. Defizite in dieser Größenordnung lassen sich im Laufe eines Bildungslebens nur schwer wieder beseitigen, weswegen die Frage nach den Ursachen umso wichtiger ist. Ohne Zweifel war 2021 ein besonders herausforderndes Jahr und gerade im Bildungsbereich wurden die coronabedingten Einschnitte besonders gespürt. Doch auch wenn die Autorinnen und Autoren der Studie darauf hinweisen, dass kurz- und langfristige Ursachen schwer zu benennen sind: dass die Ergebnisse seit 2016 zum Teil dramatisch eingebrochen sind, lässt sich nicht allein mit der Pandemie erklären. Beim Erreichen des Regelstandards im Bereich Lesen ist ein Verlust von acht Prozentpunkten zu beklagen, beim Zuhören und bei der Orthografie sind es zehn Prozentpunkte und bei der Mathematik immerhin sieben. Vor allem im Bereich der Mathematik wird damit ein Negativtrend fortgesetzt, der bereits seit 2011 besteht.

Unterschiede zwischen den Bundesländern

Richtigerweise betont Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger im Einklang mit dem Bericht daher auch, dass „kurzfristige Maßnahmen nicht ausreichen“ würden und stattdessen „abgestimmte Maßnahmen erforderlich [seien], die langfristig angelegt sind und durch Monitoring und Evaluation begleitet werden.“ Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern gibt. Ewiges Schlusslicht ist nach wie vor Bremen: obwohl es das einzige Bundesland ist, das zumindest geringfügige positive Entwicklungen zu verzeichnen hat, war die Ausgangslage so schlecht, dass jeweils rund ein Drittel der Viertklässlerinnen und Viertklässler die Mindeststandards in den einzelnen Bereichen verfehlen. Auch in Berlin und Brandenburg sieht es düster aus, hier verfehlen beispielsweise fast die Hälfte (!) der Kinder die Mindeststandards im Kompetenzbereich Orthografie. In Sachsen und Bayern dagegen sieht es etwas besser, obwohl auch hier Abstriche im Vergleich zur Erhebung von 2016 zu verzeichnen sind. Hamburg erreicht diesmal zwar auch einen Platz unter den Spitzenreitern, vor allem aber deswegen, weil die anderen Bundesländer noch stärker verloren haben.

"Risikolagen"

Die tieferliegenden Ursachen für das „besorgniserregende Bild“, wie es im Bericht heißt, sind komplex. Aufschlussreich sind immerhin die Beobachtungen, die unter den Überschriften „soziale bzw. zuwanderungsbedingte Disparitäten“ verzeichnet werden. So sei die „Kopplung“ zwischen den „erreichten Kompetenzen und dem sozioökonomischen Status ihrer Familien, die mit sozialen Gradienten bestimmt wird, […] in allen Kompetenzbereichen für Deutschland insgesamt und in allen Ländern substanziell.“ Wie schon in vielen anderen Bildungsstudien zuvor zeigt sich außerdem wieder die Bedeutung des kulturellen Kapitals: je mehr Bücher im heimischen Bücherregal stehen, desto besser sind in der Regel die erreichten Kompetenzwerte – ein Trend, der sich seit 2011 sogar noch verstärkt hat. Auch die Migration ist ein wichtiger Faktor, um die Entwicklungen zu erklären: „Da die Kompetenzeinbußen für Kinder mit Zuwanderungshintergrund in fast allen Bereichen stärker ausfallen als für Kinder ohne Zuwanderungshintergrund“, so die Forscherinnen und Forscher, „ist bei einem insgesamt sinkenden Kompetenzniveau ein deutlicher Schereneffekt und eine Zunahme zuwanderungsbezogener Disparitäten zu beobachten.“ Wichtig ist dabei zu bedenken, dass sich diese Differenzen auch dadurch erklären lassen, dass sich die sogenannten „Risikolagen“ (beispielsweise ein niedriger sozioökonomischer Status oder finanzielle Probleme) vermehrt bei Kindern aus Zuwandererfamilien finden lassen. Zweifelsohne hat die zu Hause gesprochene Sprache eine Auswirkung auf die Kompetenzen im Bereich Lesen und Zuhören – doch es ist nicht der Migrationshintergrund an sich, sondern die statistisch häufigere Verkettung von „Risikolagen“, welche Disparitäten am ehesten erklärt.

Wie können wir mehr Chancengerechtigkeit erreichen?

Lösungen sind schwierig, denn Bildungspolitik ist eben weder Sozial- noch Einwanderungspolitik. Doch gerade weil der Bildungserfolg oft vom sozialen Hintergrund des Elternhauses abhängt, kann die Bildungspolitik die großen Herausforderungen nicht alleine bewältigen. Trotzdem gibt es Maßnahmen, die ergriffen werden sollten. Wie sich am Beispiel Hamburg zeigt, ist die konsequente Erhebung von Daten zur individuellen und gesamtschulischen Leistungen ein wichtiger Schlüssel, um Entwicklungen zu erkennen und zu beeinflussen. Außerdem sind frühkindliche Förderung – verbunden mit verpflichtenden Sprachstanderhebungen – ein wichtiger Hebel, um frühzeitig für etwas mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen. Gleichzeitig sollten die Schulen im Fokus stehen, die besonders viele Kinder mit sogenannten „Risikolagen“ zu verzeichnen haben. Das Startchancen-Programm, wie es im Koalitionsvertrag vereinbart worden ist, bietet hier wohl tatsächlich die Chance, dem Negativtrend entgegenwirken zu können. Es gilt: der Regelstandard für die Bildungspolitik aller Bundesländer muss es sein, allen Kindern unabhängig von ihrer Herkunft die bestmögliche Entfaltung der eigenen Talente zu ermöglichen.