Reformation und Freiheit
Woher rührte die liberale Verbundenheit mit einem Mönch respektive Theologen, dessen Wirken in Zeiten lag, wo von Liberalismus als Idee oder politischer Bewegung keine Rede sein konnte? Über Martin Luther und die Liberalen.
Die deutschen Liberalen haben immer ein besonderes Verhältnis zu Martin Luther und der Reformation gehabt. Das zeigte sich unter anderem bei der 400-Jahr-Feier des ominösen Thesenanschlages an der Wittenberger Schlosskirche: Da widmeten die großen liberalen Zeitungen dem Ereignis häufig ganze Artikelfolgen. Friedrich Naumanns Ausarbeitung zum Thema lief sogar über sieben Ausgaben seiner Zeitschrift „Die Hilfe“. Und ganz selbstverständlich setzten die Gesamtdarstellungen zur Geschichte des deutschen Liberalismus von Oskar Klein-Hattingen (1911) oder Friedrich Sell (1953) mit Luther ein.
Traditionale Ausrichtung
Woher rührte die liberale Verbundenheit mit einem Mönch respektive Theologen, dessen Wirken in Zeiten lag, wo von Liberalismus als Idee oder politischer Bewegung keine Rede sein konnte? Zum einen hatte dies mit der traditionell „nationalen“ Ausrichtung der deutschen Liberalen über lange Jahre zu tun, hervorgegangen aus ihrer selbstgesetzten Aufgabe, „Einheit und Freiheit“ für das deutsche Vaterland zu gewinnen. Aus diesem Blickwinkel war die Reformation ein sehr deutsches Ereignis, hatte sie doch als welthistorische Entwicklung von einem deutschen Kernland aus ihren Ausgangspunkt genommen.
Genau das wurde in der bedrängten Situation des Ersten Weltkrieges auch von liberaler Seite herausgestellt. So sprach Theodor Heuss 1917 von der Reformation als dem Beginn der „Weltmission des Deutschtums“ und ein liberaler Landtagsabgeordneter, von Hause aus Pfarrer, stellte lapidar fest: „Die Reformation ist eine deutsche Tat.“ Einen Widerhall davon findet sich übrigens noch in einer kleinen Ansprache von Walter Scheel zum Lutherjahr 1983, wo er meinte, die Reformation sei „in der Hauptsache eine deutsche Angelegenheit“ gewesen. Das mag für ihre Ursprünge gelten, aber schnell wuchs sie schon deshalb darüber hinaus, weil ihr Gegenspieler das Papsttum war, schon damals wahrhaft ein „Global Player“. Und in ihren Auswirkungen hatte die Reformation weltweite Bedeutung.
Zu dem nationalen trat noch ein weiteres, heute sicherlich weit wichtigeres Moment, das in liberalen Augen nicht nur die lutherische Reformation auszeichnete. Eine der bekanntesten Schriften Luthers trug den bezeichnenden Titel „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Dies war zwar rein theologisch gemeint, bot aber einen interessanten Ansatzpunkt, Luther postum zum Vorläufer des Liberalismus zu machen und die Reformation in die Reihe der großen frühneuzeitlichen Revolutionen auf beiden Seiten des Atlantiks einzufügen.
Nicht erst wir heute wissen, dass Luthers „Reform“ sich auf das Seelenheil und den Zustand der Kirche bezog und ihm gesellschaftliche oder politische Reformen völlig fern lagen. Seine „Freyheyt“ zielte dementsprechend auf die Befreiung des Glaubens von der Vormundschaft überlieferter kirchlicher Institutionen und Dogmen und gerade nicht auf die Befreiung aus gesellschaftlichen und politischen Zwängen. Im Gegenteil, für ihn war die Obrigkeit von Gott eingesetzt, worauf er sich auch gegenüber den aufständischen Bauern berief, die gerade von ihm Hilfe für ihren „Freiheitskampf“ erwartet hatten. Folgerichtig warnt schon Friedrich Naumann in seiner Schrift „Luthers Freiheit“ 1917 vor allzu plumper Vereinnahmung des Reformators.
Zugleich schrieb er aber auch von Luther als einem „Mann der Freiheit vor Gott und Menschen“. In der Tat hatte die Reformation mittel- und langfristig befreiende Wirkung, indem sie die vielleicht wichtigste Bresche in das mittelalterliche System schlug mit seiner Identität von Gesellschaft, Staat und Glauben, in dem Individualismus keinen Platz hatte. Das änderte sich mit der Reformation, die zunächst in Glaubensfragen und dann allgemein die Bahn freimachte für einen lange und hart umkämpften Pluralismus. Insofern ist die Reformation, vermutlich gegen den Willen ihres bekanntesten Vertreters, auch politisch und sozial eine befreiende Tat gewesen, die eine neue Epoche einleitete und in liberaler Sicht auf Dauer entscheidende Fortschritte mit sich brachte. Zu Recht stellte Naumann vor 100 Jahren fest: „Mag in Luther noch so viel Mittelalter stecken, von ihm an ändert sich die Luft.“
Martin Luther war kein Liberaler. Er lebte schließlich in der Welt vor der Aufklärung. Aber er hat uns die Gewissensfreiheit überlassen mit seiner Standhaftigkeit vor dem Kaiser in Worms: „Hier stehe ich und kann nicht anders!"
Soziale Basis des deutschen Liberalismus
Mit Bezug auf Naumann hat übrigens Hans-Dietrich Genscher 1983 darauf hingewiesen, was der Liberalismus Luther verdanke: Für den langjährigen Außenminister und FDP-Vorsitzenden waren dies an erster Stelle das protestantische Bildungsbürgertum und speziell die Pfarrhäuser als „soziale Basis des deutschen Liberalismus“, zweitens Luthers Bibelübersetzung als Grundlage für die Bewegung der Aufklärung und ein deutsches Nationalgefühl und schließlich die Trennung von Kirche und Staat. Genscher hatte keinen Zweifel, dass in der Reformation der „Ausgangspunkt allen unabhängigen Denkens“ lag.
Man mag heute die Akzente bei der Frage nach der Bedeutung der Reformation etwas anders setzen, vielleicht auch kritischer ihr gegenüber eingestellt sein. Nicht übersehen werden sollte aber, dass während der vergangenen Jahrhunderte die gesellschaftlichen und politischen Fortschritte, für die Liberale eingetreten sind und immer noch eintreten, vor allem entweder in Gebieten entwickelt wurden, in denen reformatorisches Gedankengut vorherrschte, oder solchen, die sich in direkter Konkurrenz zu reformatorischen Bestrebungen sahen. Aus welthistorischer Perspektive war die Reformation eine Befreiungstat, weshalb Liberale heute durchaus mit Dankbarkeit auf die kleine Stadt an der Elbe schauen können.[1]
[1] Literaturtipp: Anton Schindling/Jochen Merkle: Luther und die Freiheit. Religionsfreiheit und religiöse Toleranz im Zeitalter der Reformation. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 29 (2017), S. 345-362.