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Armenien
Revolutionseuphorie ist Ernüchterung gewichen

Ein Jahr nach den Parlamentswahlen in Armenien
Nikol Paschinjan, Ministerpräsident von Armenien
Nikol Paschinjan, Ministerpräsident von Armenien © picture alliance/Kay Nietfeld/dpa

Vor genau einem Jahr zog in Armenien das von der Ikone der samtenen Revolution und Symbolfigur Nikol Paschinjan angeführte Wahlbündnis „My Step“ (Mein Schritt) mit einer Zweidrittelmehrheit ins Parlament einDie „Republikanische Partei Armeniens“ von Ex-Präsident Sersch Sargsjan scheiterte an der Fünf-Prozent-Hürde. Von Paschinjans Wahl erhofften sich viele den angekündigten grundlegenden Wechsel. Groß – vielleicht zu groß – waren die Hoffnungen, dass sich alles in kürzester Zeit zum Positiven verändern würde.

Es war ein Erdrutschsieg, den die Parteien-Allianz „Mein Schritt“ bei den Parlamentswahlen am 9. Dezember 2018 erzielte. Mit 70 Prozent erreichte das Parteienbündnis von Nikol Paschinjan in freien und fairen Wahlen eine Zweidrittelmehrheit in der armenischen Nationalversammlung und er wurde zum Ministerpräsidenten gewählt. Ausgestattet mit dieser Machtfülle erwartete die Bevölkerung nun, dass die hochgesteckten Ziele angegangen und sich rasch Erfolge einstellen würden. Die Liste war lang: Kampf gegen Vetternwirtschaft und Korruption und eine spürbare Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Situation der zu großen Teilen verarmten Bevölkerung. Doch in Armenien macht sich dieser Tage Ernüchterung breit. „Die Euphorie ist einer gewissen Resignation gewichen“, beschreibt die Mitarbeiterin einer deutschen Organisation in Eriwan die Stimmung ihrer armenischen Bekannten und Mitarbeiter und fügt hinzu: „Viele sind enttäuscht und ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die Menschen bald wieder auf die Straße gehen.“ Auch wenn derzeit nicht von einer Wiederholung der Massenproteste vom Frühjahr 2018 auszugehen ist – die Revolutionsbegeisterung, die im vergangenen Jahr nahezu alle Schichten der Bevölkerung erfasste, hat einen Dämpfer bekommen.

Paschinjan: „Die Regierung hat auch hohe Erwartungen an die Menschen“

In einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ betonte Ministerpräsident Nikol Paschinjan im Februar, dass er auch die Bevölkerung in der Verantwortung sehe. „Die Menschen haben hohe Erwartungen an die Regierung! Aber die Regierung hat auch hohe Erwartungen an die Menschen. (...) Diese Revolution war von den Menschen angeführt. Das gilt jetzt umso mehr, da wir aus der politischen eine ökonomische Revolution machen wollen“, so Paschinjan. Er wolle Chancengleichheit für alle schaffen, die Steuergesetze reformieren und die Bürokratie vereinfachen, um dadurch die Hürden für den Zugang zum freien Markt abzuschaffen, so der Ministerpräsident weiter.

Doch eben diese „ökonomische Revolution“ ist eine Mammutaufgabe für die „samtenen Revolutionäre“ und bisher ist nicht klar erkennbar, wie sie aussehen und angegangen werden soll. Die Erfolge bei der Bekämpfung der über Jahrzehnte etablierten Kleinkorruption, birgt auch ein Konfliktpotential, da sie Tausenden eine Einnahmequelle entzieht. Die notwendige Verschlankung der Bürokratie und die Reduzierung der Ministerien haben ebenfalls den Verlust von Arbeitsplätzen zur Folge. Nach dem Ende der Sowjetunion sind Industrie und Landwirtschaft im rohstoffarmen Armenien zusammengebrochen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und viele Familien überleben nur durch die Überweisungen von Familienangehörigen, die im Ausland arbeiten. Wie und welche Wirtschaftszweige entwickelt werden sollen, ist unklar. Die wenigen Kapazitäten des Landes im Tourismus-, Wein- und Bergbausektor haben nicht das Potential, die angekündigte „ökonomische Revolution“ tragen zu können. Eine Strategie zur grundlegenden Entwicklung der Wirtschaft ist derzeit nicht erkennbar.

Große Hoffnungen werden allerdings auf die Entwicklung des IT-Sektors gesetzt - eine der wenigen Branchen die wächst und in der Arbeitskräfte gesucht werden. Start-ups werden gegründet und ausländische IT-Unternehmen siedeln sich vermehrt an. Mit günstigen Rahmenbedingungen soll das Land zu einem IT-Zentrum ausgebaut werden und die Chancen, das zu erreichen, stehen nicht schlecht. Sehr gute Voraussetzungen bestehen im universitären Bereich mit den Schwerpunkten IT-Ausbildung, Ingenieur- und Naturwissenschaften. Steuerermäßigungen für Start-ups und IT-Firmen sollen Anreize schaffen und es gibt gut ausgebildete Fachkräfte mit Fremdsprachenkenntnissen. Armenien könnte an eine lange Tradition anknüpfen. Schon zu Sowjetzeiten war das Land ein Technologie- und Wissenschaftszentrum. Doch auch der IT-Sektor wird die „ökonomische Revolution“ nicht alleine herbeiführen können.

Zusammenarbeit mit Russland für Armenien weiterhin alternativlos

Im November 2017 unterzeichneten der damalige armenische Außenminister Edward Nalbandjan und die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini das Comprehensive and Enhanced Partnership Agreement (CEPA). Ein ursprünglich geplantes umfassenderes EU-Assoziierungsabkommen war 2013 nach jahrelanger Vorbereitung überraschend gescheitert. Im Jahr 2015 ist Armenien Mitglied in der von Russland gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) geworden. CEPA ist eine auf Armenien zugeschnittene „light-Version“ des ursprünglich geplanten Assoziierungsabkommens mit politischen Schwerpunkten (Rechtsstaatlichkeit, Good Governance, Stärkung demokratischer Institutionen, Korruptionsbekämpfung), aber ohne Freihandelsabkommen mit der EU unter Berücksichtigung der Mitgliedschaft Armeniens in der Eurasischen Wirtschaftsunion. Trotzdem beinhaltet das CEPA auch eine stärkere Annäherung an die EU und deren Normen- und Regulierungssystem, um Handel und Investitionen zu begünstigen. Die EAWU-Mitgliedschaft wird bisher von der neuen Regierung nicht in Frage gestellt, da Armenien von Russland wirtschaftlich abhängig ist und die meisten armenischen Exportgüter nicht den europäischen Standards entsprechen. Der EAWU-Markt ist groß und daher interessant für armenische Exporte. Neben Armenien sind Russland, Kasachstan, Kirgistan und Weißrussland Mitglieder dieser Wirtschaftsunion.

Auch politisch wird die neue Regierung weiter auf gute Beziehungen zu Russland setzen, obwohl ebenfalls eine Visa-Liberalisierung mit der EU angestrebt wird. In diesem Punkt schaut Armenien etwas neidisch auf das Nachbarland Georgien, deren Bürger seit 2017 ohne Visum in den Schengenraum reisen können. Aber: „Armenien wird nicht den georgischen Weg in Richtung EU- und Nato-Annäherung wählen und dafür 20 Prozent seines Territoriums verkaufen“, so ein hochrangiger Regierungsvertreter mit Verweis auf die von Georgien abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien. Die Zusammenarbeit mit Russland ist für das Land noch immer existentiell und alternativlos, darüber herrscht auch in der Bevölkerung weitgehend Konsens. Nicht nur wirtschaftlich, auch militärisch ist Armenien von Russland abhängig, denn mit 6000 Soldaten im Land ist Russland die Schutzmacht im Dauerkonflikt mit dem Nachbarn Aserbaidschan und im schwierigen Verhältnis zur Türkei. Nikol Paschinjan hat immer wieder betont, dass die samtene Revolution nicht vom Ausland beeinflusst war und nicht vergleichbar sei mit anderen „Farbenrevolutionen“, was von Moskau mit einer von vielen nicht erwarteten Zurückhaltung im Frühjahr 2018 und bei den weiteren Entwicklungen honoriert wurde.

Einjährige Bilanz mit Schönheitsfehlern

Es ist verfrüht, eine ausschließlich negative Bilanz der bisherigen Regierungsarbeit der „samtenen Revolutionäre“ zu ziehen. Aber die einjährige Bilanz hat Schönheitsfehler. Ein wichtiges Stichwort ist die Pressefreiheit. Vor der samtenen Revolution war eine freie Presse so gut wie nicht existent. Der redaktionelle Inhalt der größeren Medien war meist den Interessen der jeweiligen Eigentümer geschuldet und daran hat sich bis heute leider wenig geändert. Unabhängigen Journalismus gab es überwiegend in Online-Medien und sozialen Netzwerken, die auch eine große Rolle während der samtenen Revolution spielten. Laut NGOs werden Journalisten bei kritischer Berichterstattung über die Regierungsarbeit schnell als Konterrevolutionäre beschuldigt und als vom „alten System“ gekauft bezeichnet. Auch was den Schutz sexueller Minderheiten angeht, hat sich noch nicht genug getan. In der Queeren Community waren die Hoffnungen nach der samtenen Revolution groß, doch nach zahlreichen homophoben Übergriffen durch radikale, rechte Gruppen, großen Anti-LGBT-Demonstrationen und die Absage einer internationalen LGBT-Konferenz in Eriwan infolge massiver Drohungen sprechen NGO-Vertreter mittlerweile von einer Verschlechterung der Situation und werfen der Regierung Paschinjans Untätigkeit sowie mangelnde Unterstützung vor. Die in diesem Zusammenhang geführte Diskussion über die Istanbul-Konvention ist sehr heftig und kontrovers.

Die Bekämpfung von Korruption und Vetternwirtschaft war ebenfalls eines der Hauptziele der neuen Regierung. Jahrzehntelang die Korruption alle Bereiche durchzogen: Ob beim Arzt, im Krankenhaus, bei Behörden, in Universitäten oder bei Polizeikontrollen – überall mussten kleinere oder größere „Gebühren“ entrichtet werden. Während der Kampf gegen die alltägliche Kleinkorruption auf einem guten Wege ist, kann von einer systematischen Korruptionsbekämpfung im Großen keine Rede sein. Diese scheint selektiv und oft entsteht der Eindruck, dass einerseits alte, insbesondere politische Rechnungen beglichen werden, andererseits einige Oligarchen nicht angetastet werden. Eine Gegenbewegung der „alten Eliten“ ist vermehrt spürbar. Anfang des Monats wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Ex-Präsidenten Sersch Sargsjan eröffnet und es ist ihm untersagt, das Land zu verlassen. Der Vorwurf: Veruntreuung von Staatsgeldern. Sargsjan war nach dem Regierungswechsel in der Versenkung verschwunden und gab keine öffentlichen Erklärungen ab. Bis zum 20. November als er auf einem Kongress der Europäischen Volkspartei (EPP) in Zagreb Medienberichten zufolge sagte: „Die politische Verfolgung ist im Gange. Aggressive Aktionen gegen oppositionelle Medien und Aktivisten, Intoleranz und Hassreden sind zu regelmäßigen Ereignissen geworden und erreichen alarmierende Dimensionen.“ Dadurch entsteht die Frage, ob die jetzigen Ermittlungen eine Retourkutsche für seine Äußerungen in Zagreb sind. Auch sein Vorgänger, Robert Kotscharjan wartet im Gefängnis auf ein Gerichtsverfahren wegen der gewaltsamen Auflösung von Protesten im Jahr 2008. Sowohl Sargsjan als auch Kotscharjan stehen für Vetternwirtschaft im „vorrevolutionären“ Armenien, wo Oligopole die Taschen einiger weniger füllten und durch die Monopolstellung einzelner Unternehmen den Markt für die meisten Produkte kontrollierten. Immerhin wurde kürzlich vom Parlament eine Antikorruptionskommission etabliert, der die Parlamentsabgeordnete Haikuhi Harutyunyan, Mitglied der oppositionellen Bright Armenia Party - BAP (Stiftungs-Partner) vorsteht.

Die Rolle dieser Partei als Opposition ist nicht einfach: Viele sehen in ihrer kritischen Haltung gegenüber der gewählten Regierung eine Beschädigung der Revolutionsdynamik, verkennend, dass eine Opposition in einer parlamentarischen Demokratie genau diese kritische Rolle einnehmen muss. Auch der Standpunkt von BAP, dass die Lösung der Verfassungskrise rechtsstaatlich erfolgen muss, ist umstritten. Hintergrund ist, dass das aus neun Personen bestehende Verfassungsgericht sieben Mitglieder hat, die vor der Revolution gewählt wurden und somit dem alten Establishment zuzurechnen sind. Nur zwei sind neu. Einer davon boykottiert die Sitzungen des Verfassungsgerichtes mit der Maßgabe, das Gericht sei nicht rechtsstaatlich gewählt und somit nicht legitim. Aktuell versucht die Regierung das Problem zu lösen, indem die sieben „alten“ vorzeitig, aber mit hohen Bezügen auf freiwilliger Basis in Pension gehen sollen. Der Vorsitzende hat aber schon seinen Widerstand angekündigt. Eine scheinbar unlösbare Aufgabe für die Revolutionäre, deren Lösung aber insbesondere im Zusammenhang mit dem anstehenden Verfahren gegen Vertreter der alten Elite wichtig ist. Die Venedig-Kommission des Europarates ist in dieser Angelegenheit eingeschaltet.

Das Team von Paschinjan, überwiegend jung und motiviert, aber eben auch politikunerfahren, steht also einer Vielzahl von Herausforderungen gegenüber, und dies mit einem Verwaltungsapparat, der jahrzehnte in den alten Strukturen verankert war. „Nach der Revolution der Emotionen gilt es nun, eine Revolution der Institutionen zu gestalten“, sagte ein Regierungsmitglied. Und diese müssten jetzt systematisch aufgebaut und gestärkt werden, gemeinsam mit der Bevölkerung. Ob aber die Geduld der Bevölkerung nach jahrzehntelanger Stagnation und Politikverdrossenheit in der nun abklingenden Revolutionseuphorie reichen wird? Dem bisherigen zum Teil unprofessionellen Agieren der jungen Regierungsmannschaft und den permanenten Ankündigungen der wirtschaftlichen und institutionellen „Revolution“ ohne eine konkrete Konzeption sollten jetzt endlich Taten folgen, begleitet von einer glaubhaften Vermittlung von Perspektiven mit langfristigen politischen und wirtschaftlichen Strategien. Sonst kann es zu einem grundlegenden Stimmungswechsel kommen, und die Menschen wieder auf die Straßen bringen.

 

Peter-Andras Bochmann ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung im Südkaukasus.
Mitarbeit: Götz-Martin Rosin, Freier Journalist.