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INF-Vertrag
Was kommt nach dem INF-Vertrag?

Europa muss sich dringend gegen einen weltweiten Raketen-Wildwuchs einsetzen
Marschflugkörper

Eine Vorrichtung für Marschflugkörper "Regulus I Starter" auf dem US-U.boot USS "Growler".

© picture alliance/akg-images

Diesen Freitag läuft der Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (Intermediate Nuclear Forces) zwischen den USA und Russland fristgerecht aus, nachdem beide Seiten vor sechs Monaten ihren Austritt erklärt hatten. Der Versuch des deutschen Außenministers Heiko Maas und anderer europäischer Spitzenpolitiker, das für Europas Sicherheit wichtige Übereinkommen zu retten, sind gescheitert. 

Die USA und die Sowjetunion hatten sich 1987 dazu verpflichtet, alle Marschflugkörper und bodengestützten Raketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 km zu vernichten und auf die Entwicklung, Produktion und Stationierung solcher Systeme fortan zu verzichten. Europa befand sich damit nicht länger in der Geiselhaft sowjetischer Raketen. Bei einem zu befürchtenden nuklearen Schlagabtausch hätten die beiden Supermächte ihre Interkontinentalraketen direkt auf das Territorium des Gegners gerichtet.   

Der INF-Vertrag ist das einzige Rüstungsabkommen, mit dessen Hilfe nicht nur eine Begrenzung, sondern ein komplettes Verbot bestimmter Waffen gelungen ist. Sein Ende bedeutet einen weiteren Rückschritt in der ohnehin bröckelnden weltweiten Abrüstungspolitik. Die größten Verlierer an diesem Freitag sind die Europäer, die sich fragen müssen, ob sie das Risiko einer Bedrohung durch russische Raketen in Kauf nehmen oder ihrerseits durch die Stationierung amerikanischer oder eigener Mittelstreckenraketen regieren möchten. 

Sicherheitspolitische Zwei-Klassengesellschaft

An dieser Frage drohen sich neue Bruchlinien innerhalb der Europäischen Union und der transatlantischen Allianz zu öffnen. Während Mitgliedsstaaten wie Polen an der Aufstellung amerikanischer Raketen auf ihrem Boden interessiert sein könnten, dürften westeuropäische Mitgliedsstaaten wie Deutschland dies strikt ablehnen. Es könnte dadurch eine sicherheitspolitische Zwei-Klassengesellschaft entstehen. 

Während der vergangenen Wochen wurde die Frage nach der Schuld am Scheitern des Vertrages intensiv debattiert. Russland, so sind sich die NATO-Verbündeten einig, verletzt mit der Entwicklung des Marschflugkörpers Iskander 9M 729 schon seit Jahren die Vertragsbestimmungen. Mehrere Dutzend Raketen dieses Typs sind offenbar bereits in die russischen Streitkräfte eingeführt. Die USA haben sich daraufhin im vergangenen Herbst entschieden, nicht länger auf die Einhaltung des Vertragswerkes zu pochen, sondern dieses zu beerdigen.  

Diese Entwicklung passt zunächst ins Bild. Auf der einen Seite ein russischer Präsident, der gegenüber Europa eine aggressive Außenpolitik verfolgt und durch die Annexion der Krim und den Einmarsch russischer Soldaten in die Ostukraine bereits mehrfach das Völkerrecht gebrochen hat. Auf der anderen Seite ein amerikanischer Präsident, der mit dem Pariser Klimaschutzübereinkommen und dem Iran-Atomabkommen gleich zwei diplomatische Errungenschaften der Weltgemeinschaft eingerissen hat. 

Misstrauen hat sich entwickelt

Das Ende des INF-Vertrages lässt sich jedoch nicht nur auf die Charaktere der Präsidenten Vladimir Putin und Donald Trump zurückführen. Auch unabhängig von den Eigenschaften dieser Staatschefs hätte das Abkommen keine großen Überlebenschancen gehabt. 

Denn erstens kann ein Rüstungskontrollsystem nur erfolgreich sein, wenn sich beide Seiten vom vertragskonformen Verhalten der jeweils anderen Seite regelmäßig überzeugen können. Der INF-Vertrag sah daher bis 2001 ein System für Verifikationsbesuche vor, von denen über 1.000 stattfanden. Beide Seiten einigten sich jedoch nie auf Modalitäten zur Fortführung dieser Verifikationsmaßnahmen. Seit sich beide Staaten nur noch auf Geheimdienstinformationen und Satellitenbilder stützen konnten, entwickelte sich ein zunehmendes Misstrauen. 

Zweitens band das Abkommen nur die Vertragspartner Russland und USA, während andere, militärisch aufstrebende Staaten ungehindert und legal bodengestützte Mittelstreckensysteme entwickeln oder kaufen konnten. So verfügen heute zum Beispiel China, Indien, Pakistan, Iran und Israel über entsprechende Flugkörper. Diese Entwicklung setzt vor allem Russland unter Druck, welches an mehrere der genannten Staaten grenzt. Die USA können zur Abschreckung Chinas im Pazifikraum zwar auf ein großes Potential an luft- und seegestützten Raketen setzen, die auch bisher nicht unter die Bestimmung des INF-Vertrages fielen, aber auch für sie eröffnen sich durch die Kündigung neue taktische Optionen. 

Beide Seiten hatten also ein Motiv, zu kündigen. Die Chancen auf eine Rettung des INF-Vertrages standen damit mehr als schlecht. Der Versuch einer Ausdehnung des Abkommens auf andere Staaten ist in der Vergangenheit schon einmal gescheitert und scheint vor allem aufgrund der Position Chinas aussichtslos. Mittelstreckenraketen sind für Peking das elementare Instrument, um Taiwan militärisch bedrohen zu können.

Keine neues Abkommen in Sicht

Doch so besorgniserregend das Scheitern des INF-Vertrages für Europa auch ist, viel alarmierender ist die Abwesenheit jedweder Initiativen für neue Rüstungskontrollabkommen, insbesondere zur Einhegung des aktuellen Wettrüstens mit neuartigen Marschflugkörpern und immer leistungsstärkeren ballistischen Raketen. 

Während Nordkorea und der Iran regelmäßig die Reichweiten ihrer Trägersysteme steigern, testete Indien im vergangen Monat seinen ersten Hyperschallflugkörper. Cruise-Missiles dieser Art fliegen mit mehr als der fünffachen Schallgeschwindigkeit und können durch heutige Raketenabwehrsysteme praktisch nicht bekämpft werden. Die Vorwarnzeiten schrumpfen auf ein Minimum. Die USA, Russland und China verfügen bereits über solche Systeme.

Die Fokussierung auf Raketen ist besonders für aufstrebende Mächte wie Indien, Pakistan und den Iran lohnend. Das Ziel des Besitzes dieser Waffen besteht einzig und allein darin, für den Fall eines Angriffs glaubhaft mit Vergeltung drohen zu können. Doch auch wenn keine Seite den offensiven Einsatz ihrer Raketen beabsichtigt, können technisches Versagen oder menschliche Fehler angesichts kurzer Vorwarnzeiten schnell zu einer unbeabsichtigten Kettenreaktion führen. 

Angesichts dieser Entwicklungen sind neue Initiativen zur globalen Rüstungskontrolle dringend geboten. Statt einem bilateralen Abkommen aus der Zeit des Kalten Krieges nachzutrauern, gilt es in der multipolaren Welt von heute, sowohl das Risiko einer Eskalation zu minimieren als auch einen Ausweg aus einer teuren, verschwenderischen Rüstungsspirale zu finden.

Dabei kann Europa sich nicht auf die Unterstützung der aktuellen US-Regierung verlassen. Es sollte daher lieber sein eigenes diplomatisches und militärisches Gewicht nutzen, welches es mit zwei permanenten Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates und zwei Atommächten auf die Waage bringt, und sich für die Etablierung neuer Rüstungskontrollverträge einsetzen. Dies setzt eine enge Einbindung der Vereinigten Königreichs voraus, unabhängig von dessen Mitgliedschaft in der EU.

Die ersten Ziele neuer Rüstungsabkommen könnten zum Beispiel darin bestehen, Tests von Hyperschallflugkörpern oder die Bestückung von Marschflugkörpern mit nuklearen Sprengköpfen zu verbieten. Dies wären nur kleine Schritte auf einem langen Weg zu einem neuen Rüstungskontrollsystem. Doch auch die bilateralen Abkommen, die von der Sowjetunion und den USA während der 80er Jahre geschlossen wurden, sind nur langsam und auf Grundlage eines mühsam wachsenden gegenseitigen Vertrauens entstanden. 

 

Sebastian Vagt ist European Affairs Manager der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.