Europa
Zukunftsweisendes Gedenken in Frankreich
In strömendem Regen schreitet der französische Staatspräsident Emmanuel Macron am Morgen des 11. Novembers die französischen Soldaten ab. Mit ernstem Blick mustert er die Truppen, die anlässlich des 100. Jahrestages des Waffenstillstandes von Compiègne um den Pariser Triumphbogen aufgereiht sind. Dort, wo seit fast 100 Jahren symbolisch die sterblichen Überreste eines unbekannten Gefallenen des Ersten Weltkrieges aufgebahrt sind, liefern sich an jedem anderen Tag Busse, Autos und Zweiräder einen motorisierten Schlagabtausch. Es ist es geradezu gespenstisch still, bis ein Männerchor die Marseillaise anstimmt.
Das Gedenken an die „Armistice“, die Waffenstillstände des Ersten und Zweiten Weltkrieges, besitzen im kollektiven Gedächtnis Frankreichs einen hohen Stellenwert – ganz anders als in Deutschland. Der Erste Weltkrieg wird gar „La Grande Guerre“ (dt. der große Krieg) genannt. Es verwundert daher kaum, dass das diesjährige Jubiläum besonders groß ausfiel. Eine Woche lang hatte Macron Kriegsschauplätze im Elsass, Lothringen und in Nordfrankreich besucht und eine hochkarätig besetzte internationale Gedenkveranstaltung in Paris abgehalten. Und dennoch hob er sich in einigen Punkten von seinen Vorgängern – von De Gaulle bis Hollande – entschieden ab.
Macron bricht mit französischer Erinnerungskultur
Große Kritik aus dem nationalkonservativen Lager – die im Vorwurf der Geschichtsumdeutung gipfelte – erntete sein Entschluss, keine traditionelle Militärparade zu Ehren der heimischen Streitkräfte durchzuführen, wie sie noch unter Staatspräsident Charles de Gaulle zum 50-jährigen Jubiläum im Jahr 1968 stattgefunden hatte.
Macrons Entscheidung markiert eine entscheidende Zäsur in der französischen Erinnerungskultur, so wie er auch in anderen Politikbereichen bewusst neue Pfade einschlägt und Initiativen einbringt. Gerade vor dem Hintergrund jüngster politischer Entwicklungen und einer zunehmenden Gefährdung der multilateralen Ordnung, stellt er nicht den Sieg Frankreichs und die Ehrung nationaler Helden in den Vordergrund, sondern bereitet den Weg für eine kollektive europäische Erinnerungskultur jenseits nationaler Grenzen und kultureller wie militärischer Gepflogenheiten. Nach Macrons Lesart sollen allen Nationen die gleichen geschichtlichen Bezugspunkte zur Verfügung gestellt werden, dies unterstreicht auch die enge Einbindung Deutschlands bei den Feierlichkeiten.
Blick in die Zukunft gerichtet – Frankreich als politische Innovationsnation
Das Gedenken an die Gräueltaten des Ersten Weltkrieges aufrechterhalten und gleichzeitig aus der Vergangenheit lernen und auf die aktuelle Politik anwenden – so lässt sich die Grundidee der Zeremonie gut zusammenfassen. Aus diesem Grund eröffnete Präsident Macron im Anschluss an die Feierlichkeiten am Triumphbogen das erste Pariser Friedensforum. Hierbei handelt es sich um eine dreitägige Dialogveranstaltung mit zahlreichen Staats- und Regierungschefs, darunter UN-Generalsekretär Antonio Guterres, nationalen und internationalen Politikexperten, NGO-Vertretern und Unternehmen, die mit innovativen Handlungsansätzen im Bereich der internationalen Politik tätig sind. Entwicklungszusammenarbeit, Cyber-Security, Demokratieförderung, Klimawandel und
Vieles mehr – ein kurzer Blick auf das umfangreiche Programm lässt keinen Zweifel an der Vielzahl von Themen mit internationaler Handlungsnotwendigkeit.
Mit den pompös inszenierten Feierlichkeiten unterstreicht Präsident Macron nicht allein seine Führungsrolle in Frankreich. Dem europäischen Publikum positioniert er sich selbst erneut als Inspirations- und Motivationsquelle für die Weiterentwicklung der Europäischen Union; gleichzeitig empfiehlt Europa gegenüber der Weltgemeinschaft als neue Anführerin der freien Welt.
Appell für eine Europäische Armee als rotes Tuch
Bereits in den Tagen vor dem Treffen der mehr als 70 Staats- und Regierungschefs in Paris hatte Macron seine Absicht angedeutet, die europäische Einigung weiter vorantreiben zu wollen. In einem Radiointerview hatte er erstmals vorgeschlagen, dass Europa eine eigene Armee aufbauen solle, „um sich vor China, Russland und sogar den USA zu schützen“. Die Europäische Armee wird von mehreren liberalen Parteien in Europa gefordert. Auch wenn es zum Aufbau europäischer Streitkräfte bislang kein konkretes Konzept gibt, durchbricht Macron mit seiner Aussage eine rhetorische Schallmauer. Die europäischen Partner dürften daraus vor allem lesen, dass Macron noch mehr als bisher bereit ist, die europäische Zusammenarbeit zu vertiefen, auch auf Kosten eigener nationaler Souveränität. Interessanterweise war es auch ein Franzose, genauer gesagt Ministerpräsident René Pleven, der im Jahre 1952 erstmals die Idee einer europäischen Armee ins Spiel brachte. Sein Plan scheiterte damals an Präsident Charles de Gaulle.
Die Tatsache, dass Macron die USA in einem Nebensatz mit China und Russland nannte, markiert ebenfalls die Verletzung einer rhetorischen Schallmauer. Er bestätigt damit, dass er die künftige Weltgemeinschaft als ein multipolares System begreift, in dem die Europäische Union ihre Interessen notfalls auch gegen die USA wird durchsetzen müssen. Seine Rede vor dem Triumphbogen, in der er „Patriotismus statt Nationalismus“ forderte, war eine unverhohlene Kritik an der Politik des ebenfalls anwesenden US-Präsidenten Donald Trump.
Macron setzt zunehmend auf „ Europe first“
Unter der Führung Trumps verließen die Vereinigten Staaten in nur zwei Jahren das Pariser Klimaschutzabkommen, kündigten das Nuklearabkommen mit dem Iran einseitig auf und gaben ihren Ausstieg aus dem Abkommen über nukleare Mittelstreckenraketen („INF-Vertrag“) mit Russland bekannt. Diese Verträge waren wichtige Säulen einer globalen Sicherheitsarchitektur, die einstmals auf Bestreben der europäischen Staaten zustande kamen und deren Schutz und Sicherheit dienten. Beim Kampf gegen die Erderwärmung, gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und gegen die Ausweitung von Konflikten in ihrer Nachbarschaft ist die Europäische Union nun mehr denn je auf sich allein gestellt.
Vor diesem Hintergrund scheint Macron den traditionellen Mittelweg europäischer Sicherheitspolitik zwischen transatlantischer Allianz einerseits und stärkerer europäischer Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik andererseits zunehmend aufzugeben und dafür ganz auf Europa zu setzen. Seinen Vorstellungen nach soll sich die Europäische Union als globaler Akteur verstehen und sich auf Augenhöhe mit den USA und China bewegen.
Emmanuel Macron sieht sich selbst gerne in der Tradition von Charles De Gaulle, dem ersten Präsidenten und Begründer der „V. Republik“. Wie einst General De Gaulle tritt auch er charismatisch und bestimmt – manchmal auch arrogant – auf, inszeniert sich gerne und sorgfältig. Doch anders als sein Vorgänger, der von den Gräueltaten Deutschlands unmittelbar geprägt war, ist Macron davon überzeugt, dass Europa für Frankreich keine Bedrohung, sondern eine Chance ist. Folgt man diesen Gemeinsamkeiten, ist Macron auf seine Art ein europäischer De Gaulle des frühen 21. Jahrhunderts.
Carmen Gerstenmeyer ist European Affairs Managerin im Regionalbüro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.
Sebastian Vagt leitet den Expert Hub für sicherheitspolitischen Dialog der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel