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RE:START21
Europäische Außenpolitik geht nur gemeinsam

Nationale Interessen, Sicherheitspolitik, Außenhandel und die Flüchtlingsdebatte. Europa steht vor vielen Herausforderungen. Um handlungsfähig zu bleiben, muss die EU als starke Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten agieren.
ReStart21 Europe

Die Welt des Kalten Krieges des 20. Jahrhunderts ist tot. Heute entstehen neo-pentarchische Strukturen in der Weltordnung, die Europa vielfältigen Bedrohungs- und Risikoszenarien aussetzt. Geographisch gibt es stark unterschiedliche Prioritäten bei den EU-Mitgliedstaaten: Die mittel- und osteuropäischen Staaten wie das Baltikum schauen auf Russland, das nach der Besetzung der Krim einen heißen Krieg auf dem Staatsgebiet der Ukraine führt und weit entfernt ist von einer gutnachbarschaftlichen Beziehung zur EU. Die Mittelmeeranrainer der EU schauen auf den MENA-Bogen und Afrika als Raum der Instabilität und Herkunft von Flüchtlingsstr.men. Die ökonomischen Schwergewichte West- und Nordeuropas sowie die EU insgesamt sind mit der chinesischen Herausforderung konfrontiert, wirtschaftspolitisch wie auch zunehmend als Machtfaktor in der Sicherheitspolitik. Hinzu kommt, dass die USA, gerade unter Biden, Europa als Garant seiner eignen wie auch weltweiter Sicherheit zunehmend in die Pflicht nehmen werden, schon weil sie den Schwerpunkt ihrer strategischen Ausrichtung aus dem atlantischen in den pazifischen Raum verlagern.

Die EU muss außenpolitische Verantwortung übernehmen

Wenn die EU ihre Handlungsfähigkeit bewahren will, wird sie künftig mehr außen- und sicherheitspolitische sowie militärische Verantwortung übernehmen müssen. Die Politiker der EU werden wieder lernen müssen, deutlich sichtbar politisches und ökonomisches Kapital in die Außen- und Sicherheitspolitik zu investieren. Der Wettbewerb um Ressourcen, die in europäische Prioritäten wie den Green Deal, die Digitalisierung Europas und die Verbesserung seiner sozialen Sicherheit fließen, ist programmiert. Aber: Auch die strategische Unabhängigkeit und Widerstandskraft, die Steigerung ihrer militärischen Fähigkeiten und der Schutz ihrer Grenzen stehen auf der Prioritätenliste der Europäischen Union.

Die Bürgerinnen und Bürger der EU werden diese Wege dann mitgehen, wenn sie praktische Vorzüge gemeinschaftlichen Handelns erkennen und die Mitgliedstaaten der EU wie die europäischen Institutionen pragmatisch und glaubhaft zusammenarbeiten. Das Arbeitsprogramm muss daher aus drei Säulen bestehen: Ausbau der zivilen Sicherheitsinfrastruktur, Verbesserung der militärischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, Einführung und Umsetzung eines wirksamen gemeinschaftlichen Asyl- und Einwanderungskonzepts.

Wie die Pandemie die Außenpolitik verändert hat

Die Covid-19-Krise hat gezeigt, dass die EU mehr investieren muss in ausreichende Lagerhaltung und schnell abrufbare Logistik bei kritischer Infrastruktur. Dazu gehört, über Notfallpläne nicht nur auf dem Papier zu verfügen, sondern sie auch immer wieder in der Realität zu üben. Gemeinsame Beschaffung von Medikamenten und Ausrüstung nutzt Größenvorteile und schafft Verständnis füreinander, jenseits mitunter alter nationaler Traditionen. Dazu beitragen könnten auch Azubis und Studenten, die im Zuge eines Programms „Erasmus+ Security/Safety“ einen Teil ihrer Ausbildung in einem Land der EU mit den Themen der vernetzten Sicherheit verbringen würden.

Gemeinsam forschen oder Forschungsergebnisse EU-weit nutzbar machen kann – wie eindrucksvoll unter Beweis gestellt – zu schnelleren Ergebnissen bei der Suche nach und Herstellung von Wirkstoffen gegen Krankheitserreger führen. Die Überprüfung und Auflösung von einseitigen Abhängigkeiten bei Grundstoffen für die pharmazeutische Industrie gehört ebenso ins Pflichtenheft der Vernetzten Sicherheit wie die kritische Analyse von Lieferketten in der Produktion strategischer Ressourcen – „Robust Resilience by Smart Safety“.

Wieso brauchen wir eine europäische Armee?

Am freilich noch weit entfernten Horizont der militärischen Zusammenarbeit in Europa könnte eines Tages eine Europäische Armee stehen. Das Ziel von modular organisierten europäischen Streitkräften sollte auf dem Weg verstärkter regionaler Integration verfolgt werden. Ein gutes Beispiel bieten hier bereits heute die Marinen Belgiens und der Niederlande, die Beschaffung, logistische Versorgung und Führung ihrer Einheiten zusammengelegt haben und Besatzungen gemeinsam ausbilden. So können Kosten eingespart, nationale militärische Kulturen harmonisiert und die Einsatzfähigkeit gesteigert werden.

Die Organisationskulturen europäischer Streitkräfte unterscheiden sich hinsichtlich Machtdistanz, den Arbeitnehmerrechten von Soldaten, der Gleichstellung von Frauen und LGBT-Personen und anderer Punkte ganz erheblich. Zu den Voraussetzungen einer tieferen Streitkräfteintegration in Europa zählt daher auch eine Annäherung dieser Kulturen. Dazu könnte in einem ersten Schritt die Etablierung einer europäischen Offiziersschule beitragen.

Die EU-Mitgliedsstaaten sollten ihren Bedarf an Waffensystemen noch intensiver abstimmen und insbesondere sehr teure Waffensysteme wie z.B. Kampfflugzeuge oder weniger sensible Technologien wie z.B. Kampfstiefel oder Helme gemeinsam beschaffen, um Kosten zu sparen und ihre Interoperabilität zu erhöhen.

Neben der mangelnden Verfügbarkeit einsatzbereiter Waffensysteme fehlt es vielen europäischen Streitkräften an ausreichend qualifiziertem Personal. Die Mitgliedstaaten sollten daher den Dienst in ihren Streitkräften für EU-Bürger öffnen, die sowieso in ihrem Land leben. Im Moment leben 17 Mio. EU-Bürger im EU-Ausland, dürfen sich aufgrund nationaler Regelungen jedoch nicht in ihrem Gastland für den Dienst in den Streitkräften bewerben.

Gemeinsame europäische Spionageabwehr

Zentral ist auch der Bereich der Sammlung und des Austauschs nachrichtendienstlicher Erkenntnisse. Die gemeinsame Nutzung von Fachwissen und nachrichtendienstlichen Erkenntnissen ist nicht nur eine wichtige strategische Voraussetzung für das Handeln der EU, sondern trägt auch zu einer gemeinsamen Strategiekultur bei. Dies ist notwendig, um eine gemeinsame Bedrohungswahrnehmung und letztlich mehr Einigkeit über die Reaktionen der EU zu entwickeln. Im Kreise der Mitgliedstaaten der EU soll ein No-Spy-Abkommen für den Bereich der Wirtschaftsspionage geschlossen werden.

Außen- und sicherheitspolitische Ereignisse, aber auch grundlegend unterschiedliche Auffassungen innerhalb der Europäischen Union, beeinflussen das migrationspolitische Geschehen in Europa nachhaltig. Um hier bestehende Blockaden zu lösen und wieder in einen aktiven Gestaltungsmodus zu schalten, muss die EU drei Felder bearbeiten und lösen: Asyl- und Flüchtlingspolitik wirksam managen, legale Einwanderung auf rationale Grundlagen stellen, Fluchtursachen bekämpfen.

Die EU braucht eine gemeinsame Flüchtlingspolitik

Mit sieben (!) Legislativvorschlägen hat die Europäische Kommission nach der Krise 2015 ambitionierte Ideen für eine europäisch und solidarisch ausgerichtete Asyl- und Flüchtlingspolitik entwickelt. Der Aufbau einer europäischen Sicherung und Gewährleistung der Außengrenzen der EU ist Voraussetzung einer europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik. Sollten die Vorschläge der Europäischen Kommission im Rahmen des Migrationspakts vom September 2020, einen Solidaritätsmechanismus in Form von Aufnahme Geflüchteter oder Rückführungspartnerschaften zu schaffen, weiterhin an bestimmten Mitgliedstaaten scheitern, sollten diese Staaten finanziell stärker eingebunden werden – nicht zuletzt, um die völlig disproportionalen Belastungen der Außengrenzstaaten abzufedern.

Zentral wird zudem die Einhaltung menschenrechtlicher Standards bei dem neu zu schaffenden zentralen Grenzverfahren (European Border Procedure) sein sowie die Kontrolle der Einhaltung des Non-refoulement-Prinzips durch einen neuen Monitoring-Mechanismus, der der europäischen Grundrechteagentur FRA eine entscheidende Rolle beimisst. Es ist nicht zulässig, dass europäische Agenturen wie Frontex Menschenrechtsverletzungen nicht nur geschehen lassen, sondern aktiv an menschenunwürdigen push-back Aktionen auf dem Mittelmeer beteiligt sind.

Bei der Frage des Umgangs mit abgelehnten Asylbewerbern muss die Kooperation mit Herkunftsländern verstärkt werden, ohne die eine erfolgreiche Rückführungspolitik nicht umzusetzen ist. Je nach Herkunftsland bieten sich adressatenspezifische Package Deals an, die neben einer Kooperation im gemeinsamen Grenzmanagement über Frontex und EU-Grenzschutzbeamte je nach Land ausgerichtet ist. Ein wichtiger Hebel insbesondere für Herkunftsländer, aus denen Migranten mit geringer Bleibeperspektive kommen, ist die Förderung von regulären Zuwanderungswegen.

Insbesondere Deutschland, aber auch die EU insgesamt profitiert als Wirtschaftsstandort von zuwandernden Arbeitskräften. Für Deutschland heißt das: das im März 2020 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz durch gezielte Abkommen mit Partnerstaaten in passenden Schlüsselsektoren mit Leben füllen. Im Rahmen von transnationalen Ausbildungspartnerschaften könnte hierbei sowohl den Interessen deutscher Unternehmen sowie von Herkunftsstaaten mit hohem Migrationsdruck entsprochen werden. Hierbei sollten auch innerhalb der EU Verbundnetzwerke zwischen den Unternehmen der Mitgliedstaaten aufgebaut bzw. genutzt werden, um einen europaweiten Effekt zu erzielen.

Schließlich sollten sich die EU-Mitgliedstaaten im Sinne einer nachhaltigen Fluchtursachenbekämpfung stärker abstimmen und durch die Schaffung von Arbeitsplätzen in Hauptherkunftsländern Migranten ohne Bleibeperspektive wirkliche Alternativen zur irregulären Migration ermöglichen. Um künftige Fluchtbewegungen zu reduzieren, muss die EU ihr außen-, sicherheits- und migrationspolitisches Handeln stärker zusammen denken und mit allen zivilen und wenn nötig militärischen Mitteln an der Befriedung von Konflikten mitwirken.