Deutsch-Französische Beziehung
Wie weiter mit der EU?
Wie können Frankreich und Deutschland bei der Umsetzung einer ehrgeizigen EU-Agenda eine Führungsrolle übernehmen?
Nach zweimonatigem politischem Stillstand nach der Auflösung der französischen Nationalversammlung hat Frankreich gerade noch pünktlich zum Start der neuen politischen Agenda der EU-Institutionen seine Regierungsmannschaft präsentiert. Statt des politischen Experiments mit einer links-bis linksradikal geführten Minderheitsregierung stehen mit dem Regierungsbündnis aus Präsidentenmehrheit (bestehend aus der Präsidentenpartie Ensemble pour la République, Mouvement Démocrate und Horizons) und den Républicains nun endlich Ansprechpartner für Brüssel und Berlin bereit. Doch ist zu erwarten, dass die neue französische Regierung auf Sicht fährt, hängt ihre parlamentarische Minderheitsregierung doch am seidenen Faden, der mit einem Misstrauensvotum vom Rassemblement National und la France Insoumise jederzeit reißen könnte. Damit ist Frankreich genau wie Deutschland, dessen regierende Ampelkoalition im Rückblick auf den Ausgang der Europawahlen sowie jüngsten Landtagswahlen in Ostdeutschland um ihre Legitimität besorgt ist, auf nationaler Ebene geschwächt. Noch ist unklar, inwieweit der jeweilige Handlungsspielraum der beiden wichtigsten Volkswirtschaften der EU in ihrer Europapolitik dadurch nachhaltig dezimiert wird.
Macron möchte die Europapolitik weiter fest im Griff halten
Angesichts der politischen Rekonfiguration mit Michel Barnier von den Républicains als Premierminister ist es Staatspräsident Emmanuel Macron ein besonderes Anliegen, seine „domaine réservé“ in der Außen- und Europapolitik zu behalten. Sein politisches Werk, das er 2017 mit seiner ersten Sorbonne-Rede ausbuchstabierte und das im Kern die Stärkung einer europäischen Souveränität zum Ziel hat, hat Macron über die Jahre weiterentwickelt und Ende April mit seiner zweiten Sorbonne-Rede, pünktlich zur strategischen Agenda der EU verfeinert. Dort hebt er die Idee einer europäischen Handlungsfähigkeit (Europe puissance) hervor und mahnt, Europa „könne sterben“. Insbesondere die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, indem die EU massiv Bürokratie abbaut und in Schlüsseltechnologien investiert, sei nötig, um den Wohlstandsversprechen der Union (Europe prospère) gerecht zu werden. Dasmit nahm Macron wichtige Pfeiler des am 17. September erschienenen Berichts von Mario Draghi voraus, der die Vollendung des Binnenmarkts und die Wettbewerbsfähigkeit der EU in den Fokus stellt.
Dass Macron bis zum Ende seiner Amtszeit auf Kontinuität in der Europapolitik setzt, wurde nun im Rahmen der Regierungsbildung des Kabinetts von Michel Barnier deutlich. Zwar musste das Präsidentenlager bei der Vergabe der Ministerposten einige Zugeständnisse gegenüber den Républicains machen (insbesondere beim Innenressort), allerdings vermochte es Macron in der Außen- und Europapolitik, gezielt „seine Männer“ zu platzieren. Entsprechend bezeichnete der neu gewählte Europaminister und Beauftragter für die deutsch-französische Zusammenarbeit, Benjamin Haddad, bei seinem Antrittsbesuch in Berlin die Sorbonne-Rede Macrons als „politische Richtschnur“. Europa müsse sich von seiner „politischen, handelspolitischen und industriellen Naivität lösen“, so Haddad in einem Interview der Berliner Zeitung am Rande seines Besuchs.
Zudem sind mit Jean-Noël Barrot der Besetzung des vorherigen Europaministers (der in Frankreich als beigeordneter Minister einen vergleichbaren Rang wie ein Staatssekretär in Deutschland hat) zum Außenminister als auch mit Verteidigungsminister Sébastien Lecornu weitere enge Vertraute in Schlüsselbereichen der Außen- und Europapolitik platziert. Während Macron im Zuge der aktuellen deutsch-französischen Unstimmigkeiten über die Abstimmung der Einfuhr von Zöllen gegen die Volksrepublik China einräumte, dass Deutschland und Frankreich insbesondere in handelspolitischen Fragen nicht immer auf einer Linie seien, betonte Barrot wiederrum während seines Berlin-Besuchs gezielt die Einigkeit mit Berlin. So wies er auf die symbolträchtige bilaterale Zusammenarbeit beider Länder hin, die den Grundstein der europäischen Einigung ermöglichte. Im Bereich der Innovation sowie des grünen und digitalen Wandels sollten Deutschland und Frankreich zusammen die Zukunft gestalten. Die neue (und lang ersehnte) Zugstrecke Paris-Berlin, die im Dezember an den Start geht, als auch gemeinsame Projekte im Bereich der künstlichen Intelligenz seien der Beweis gemeinsamer Bemühungen.
Hohe Übereinstimmung zwischen französischen Prioritäten und dem Kabinett von der Leyen
Der von Ursula von der Leyen ausgerufene Dreiklang “Wohlstand, Sicherheit und Demokratie“ für die neue Agenda der Europäischen Kommission passt exakt zum Dreiklang von Macrons zweiter Sorbonne-Rede. Überhaupt scheint in der Europapolitik in den letzten Jahren einiges stark von französischen Ideen beeinflusst worden zu sein. Eine stärkere EU, strategisch autonom, die ihre Rolle als geopolitischen Akteur ernst nimmt, sich Standards in der Umwelt- Industrie- und Digitalpolitik setzt und diese selbstbewusst nach außen vertritt war das Credo des vergangenen Mandats der Europäischen Kommission unter Ursula von der Leyen, die letztlich auch auf Betreiben von Emmanuel Macron hin in den Sattel gehoben wurde. Doch die schwierige wirtschaftliche und geopolitische Lage, insbesondere im Kontext der Corona-Krise und des Ukrainekriegs, zieht für die EU die Frage nach sich, wie sie ihre Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich aufrechterhalten kann. So verschreibt sich das designierte Kollegium der auserwählten Kandidaten und Kandidatinnen für die Kommissionsposten ganz dem Sinne der Wettbewerbsfähigkeit, was durch den Draghi-Bericht als roter Faden untermauert wurde. Deutschland und Frankreich haben auf dem letzten deutsch-französischen Ministerrat mit ihrer eigenen bilateralen Wettbewerbsagenda eine sehr ähnliche Schwerpunktsetzung verfolgt. Die Innovationspolitik der EU, insbesondere in Schlüsseltechnologien wie dem Quantencomputing, der künstlicher Intelligenz oder den erneuerbaren Energien voranzubringen, die Dekarbonisierung voranzutreiben, ohne dabei an Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen sowie weltweite Abhängigkeiten in Punkto Rohstoff- und Energieversorgung abzubauen, sind nur einige Aspekte, die sowohl den Draghi-Bericht als auch die deutsch-französische Roadmap ausmachen. Allerdings wäre es verfehlt, darin eine durch und durch harmonische deutsch-französische Entente zu sehen, wie auch Staatspräsident Emmanuel Macron kürzlich selbst bei seiner Rede auf dem Berlin Global Dialogue zugab. Gerade in der Industrie-, Finanz- und Handelspolitik gehen die Vorstellungen zwischen Deutschland und Frankreich weit auseinander. Während das Präsidentenlager oftmals mit den Grünen innerhalb der Ampelkoalition auf einer Linie ist, etwa beim Thema Freihandelsabkommen oder Strafzöllen gegen China, ist für die Liberalen, Sozialdemokraten und auch für die Christdemokraten klar, dass eine proaktive europäische Industriepolitik sowie selbstbewusste Handelspolitik der EU nicht zu Protektionismus führen sollte.
Unterschiedliche Prioritäten in der Handels- und Industriepolitik
Deutschland ist mit seiner exportorientierten Wirtschaft hochgradig vom internationalen Welthandel abhängig, sodass befürchtet wird, dass einseitige Maßnahmen der EU, den Markt zu schützen, zu weitreichenden Gegenmaßnahmen führen könnten, die langfristig der europäischen Wirtschaft mehr schaden als nutzen könnten. So erklärt sich auch das deutsche Nein bei der Abstimmung zu den Strafzöllen der EU gegenüber China. Und was die Aushandlung weiterer internationaler Freihandelsabkommen angeht, verfolgt Deutschland die Strategie der größtmöglichen Diversifizierung und stellt darauf ab, dass es möglich sein müsse, mit Partnerstaaten und -staatsverbündeten wie Mercosur, Neuseeland, Australien, Kanada oder Indien weitere Abkommen zu schließen, wohingegen Frankreich vor allem auf mögliche negative Folgen für die eigene Produktion sowie Umwelt- und Biodiversitätsstandards hinweist. Zudem besteht weiterhin ein grundlegend unterschiedliches Verständnis in der Industriepolitik, die Frankreich mit der gezielten staatlichen Förderung von Schlüsselindustrien voranbringen möchte, worin aus deutscher Sicht die Gefahr von unlauterem Wettbewerb, beispielsweise von Macrons Idee der Schaffung europäischer Champions, und dem Verzerren von Marktbedingungen besteht. Dass nun gerade ein Franzose auf dem wirtschaftlichen Schlüsselposten sieht, wird daher aus deutscher Sicht mit einem Misstrauen gesehen. Und auch wenn dieser direkt Ursula von der Leyen untersteht, vertritt sie eher die französisch interventionistische Linie. Daher ist es zentral, die Idee der freien Marktwirtschaft nicht aus dem Blick zu verlieren.
Französischer Einfluss ist in den europäischen Institutionen zurückgedrängt
Während Deutschland mit dem Ausschuss für Außenpolitik (AFET, David Mc Allister, EVP), internationale Handelspolitik (INTA, Bernd Lange, S&D), dem Haushaltskontrollausschuss (CONT, Niclas Herbst, EVP), dem Binnenmarktausschuss (Anna Cavazzini, Grüne/EFA) sowie dem bald zu einem vollwertigen Ausschuss aufgewerteten Verteidigungsausschuss (Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Renew) gleich bis zu fünf ständige Ausschüsse im Europäischen Parlament bekleiden dürfte, sitzt eine französische Abgeordnete zwar dem wichtigen Wirtschaftsausschuss vor (ECON, Aurore Lalucq, S&D), jedoch hielt Frankreich zuvor mit dem Umwelt- und Fischereiausschuss einen vollwertigen Ausschuss mehr. Allerdings wurde Frankreich zudem der Vorsitz des Unterausschusses für Menschenrechte (DROI, Mounir Satouri, Grüne/EFA) zugesprochen. Zwar konnte sich die französische Spitzenkandidatin der Präsidentenpartei Valérie Hayer trotz des Aderlasses von 23 auf 13 französische Abgeordnete (hierzu zählt auch der italienische Abgeordnete Sandro Gozi) nach Ausgang der Parlamentswahlen ihre Wiederwahl als Vorsitzende der Renew-Europe Fraktion sichern, doch scheint insgesamt der französische Einfluss in den Institutionen geschwächt. Dies wird auch an dem neuen Zuschnitt des Kommissionsportfolios für Frankreich deutlich: zwar wurde der ehemalige Renew-Europa Vorsitzende sowie ehemalige französische Außenminister Stéphane Séjourné zu einem Exekutivvizepräsidenten aufgewertet, allerdings gibt es nun sechs statt der vorherigen drei Exekutivvizepräsidenten der EU-Kommission. Während der vorherige französische Kommissar mit ganzen fünf Kommissaren und drei Generaldirektionen unter seiner Schirmherrschaft eine Art Superportfolio bekleiden durfte (Binnenmarkt, Weltraum, Cybersicherheit, Technologiesouveränität, digitale Märkte, Verteidigungsindustrie), hat Stéphane Séjourné nun lediglich noch die Generaldirektion Binnenmarkt unter sich sowie vier Kommissare, darunter zwei direkte mit Valdis Dombrovskis als auch Maroš Šefčovič unter seinem Portfolio für „Wohlstand und Industriestrategie“, das auch Themen wie kleine und mittlere Unternehmen, Handel, Forschung sowie Innovation, Wirtschaft und Finanzdienstleistungen und Kapitalmärkte abdeckt. Nach Ansicht des ehemaligen französischen Kommissars Thierry Breton, der in einem aufsehenerregenden Abschiedsbrief kurzfristig seine Kündigung bei Ursula von der Leyen einreichte und in einem Meinungsbeitrag auf Le Monde erneut mit von der Leyen abrechnete, wird Frankreich nun auf der gleichen Stufe wie Italien, Spanien, Polen, Finnland und Rumänien behandelt. Seiner Ansicht nach ist das Gewicht Frankreichs im Vergleich zur vorherigen Kommission stark geschwächt.
Damit wird Séjourné bei der wichtigsten Schwerpunktsetzung auf die europäische Wettbewerbsfähigkeit zwar eine Kernrolle zukommen, andererseits sind die beiden Kommissare unter ihm von der EVP und gelten als enge Vertraute von der Leyens. Es bestehen bereits Vermutungen, dass von der Leyen ihre politischen Vorhaben direkt mit ihnen koordinieren könnte, ohne sich mit Séjourné abzustimmen. Auf einer kürzlich stattgefundenen Diskussionsveranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit warnten die Panelisten vor einer möglichen Präsidentialisierung unter der neuen Kommission.
Frankreich, das vorher mit Breton ebenfalls die wichtige Aufgabe der Verteidigungsindustrie verfolgte, hat dieses Portfolio nun an den eigens für Verteidigungsaufgaben geschaffenen neuen Kommissar Andrius Kabilius abgeben müssen. Wichtig wird hier neben der industriellen Kooperation, der Aufwertung des europäischen Verteidigungsfonds und der gemeinsamen Beschaffung zukünftig vor allem sein, die politischen Dimension im Sinne der Schaffung einer Verteidigungsunion nicht aus den Augen zu verlieren, so die Panelisten.
In jedem Fall findet eine geopolitische Machtverschiebung zugunsten der zentral- und osteuropäischen Mitgliedstaaten innerhalb der EU statt. Hier hat sich Frankreich stark der deutschen Position angenähert und verfolgt nun offensiver die Erweiterungsperspektive der Ukraine als auch der Balkan-Staaten. Zudem ist seit dem Machtwechsel in Polen eine Annäherung im Rahmen des Weimarer Dreiecks möglich. Diese Formate stärker zu nutzen, wird entscheidend sein, um neue politische Initiativen in der EU bi- bzw. trilateral voranzubringen. Dabei ist zu hoffen, dass Deutschland und Frankreich wichtige Fragen wie die nötigen Vertragsreformen der EU, ein Manko in den bisherigen Ankündigungen der strategischen Agenda der EU, weiter verfolgen, damit die EU zukünftig handlungsfähiger wird.
Jeanette Süß ist seit März 2023 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studienkomittee für deutsch-französische Beziehungen (Cerfa) des französischen Instituts für internationale Beziehungen (Ifri). Zuvor war sie als European Affairs Managerin beim Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit tätig, wo sie unter anderem die Frankreich-Projekte der Stiftung betreute.