Fünf Jahre Brexit
Miserable Bilanz
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Am Mittwoch fordern Demonstranten vor dem Westminster-Palast in London die Labour-Regierung auf, Großbritannien zurück in die EU zu führen.
© picture alliance / NurPhoto | WIktor SzymanowiczEnde Januar 2020, vor genau fünf Jahren, schied das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union aus. Die Brexiteers jubelten. Der Volksentscheid für den Brexit hatte im Juni 2016 stattgefunden. Im Nachhinein markiert er den Beginn einer globalen national-populistischen Welle, die inzwischen über eine Vielzahl von hochentwickelten Industrieländern geschwappt ist. Es folgte die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA und von Giorgia Meloni in Italien sowie eine lange Reihe von Wahlerfolgen scharf rechts orientierter Parteien in Frankreich, den Niederlanden, Österreich, Spanien, Deutschland und vielen anderen Nationen.
Der Fall Großbritanniens bleibt allerdings aus einem zentralen Grund besonders brisant: Dort ist nämlich mit dem Brexit wirklich ein grundlegendes Projekt der nationalen Desintegration in die Tat umgesetzt worden, anderswo (noch?) nicht. Wie sieht nun die Bilanz des Brexit aus? Die einfache Antwort lautet: Sie ist miserabel. Die Brexiteers malten seinerzeit das Bild von Großbritannien als einem künftig wirtschaftlich blühenden „Singapore on Thames“ – eine glückliche Insel, die vor störender Massen-Zuwanderung geschützt und von den lähmenden Fesseln der Brüsseler Bürokratie befreit sein würde, endlich voll integriert in die Weltwirtschaft mit der Weltstadt London als globalem „Trade and Finance Hub“, ein wenig wie zu imperialen Zeiten im 19. Jahrhundert.
Fast nichts davon ist eingetreten. Was die Zuwanderung betrifft, hat es allenfalls eine Art Substitution von Migranten gegeben: die Zahl der außereuropäischen Zuwanderer stieg, während viele EU-Bürger Großbritannien verlassen haben. Was die Wirtschaftsleistung betrifft, waren die letzten Jahre für das Vereinigte Königreich ähnlich schlecht wie für Deutschland, allerdings aus anderen Gründen: Was in Deutschland hohe Energie- und Arbeitskosten, hohe Steuern und Abgaben sowie eine überbordende Bürokratie an Wachstum verhindern, geht in Großbritannien auf das Konto des Brexit: der Warenhandel ist zwischen 2021 und 2023 kräftig eingebrochen, in der Größenordnung von 27 Prozent bei Exporten und 32 Prozent bei Importen. Besonders schlecht war die Entwicklung bei Agrarprodukten. Deutlich besser ist die Bilanz bei Dienstleistungen, aber insgesamt kann keine Rede davon sein, dass der Brexit neue starke Wachstumsimpulse setzte. Und dies trotz eines Freihandelsabkommens, das buchstäblich in letzter Minute abgeschlossen wurde. Offenbar gibt es trotzdem schwerwiegende bürokratische Hemmnisse, die innerhalb der Europäischen Union nicht bestehen.
Den Briten ist die schlechte Bilanz nicht verborgen geblieben. Gibt es deshalb einen Wunsch nach Rückkehr in die Europäische Union? Tatsächlich betrachtet eine Mehrheit der Briten den Brexit heute als Fehler, aber ob dieses selbstkritische Urteil Bestand hätte, wenn es zu einem neuen Referendum käme, lässt sich bezweifeln – zu wenig voraussehbar ist die Dynamik der Meinungsbildung im Falle eines neuen Anlaufs und der damit verbundenen politischen Polemik. Dies weiß auch die Labour-Regierung von Keir Stamer, der deshalb auch nicht daran denkt, wieder an diesem Thema zu rühren, zumal die Europäische Union sich dafür auf absehbare Zeit nicht offen zeigen würde.
Anders sieht es mit pragmatischen Schritten der Verbesserung der Handelsbeziehungen aus, so wie sie jüngst von dem EU-Handelskommissar Maros Sefcovic vorgeschlagen wurden. Es geht dabei um den denkbaren Beitritt des Vereinigten Königreiches zur wenig bekannten Pan-Euro-Mediterranean Convention (PEM), die vorsieht, dass gemeinsame komplexe Wertschöpfungsketten, die über die Grenzen zu Nachbarländern der EU reichen, in der Abfertigung genauso behandelt werden wie jene, die allein innerhalb der EU stattfinden. Dies könnte erheblich helfen, Handelsbarrieren zu senken, wird aber derzeit von der britischen Regierung noch nicht avisiert.
Der Vorschlag steht beispielhaft für jenen Pragmatismus, der im Umgang mit dem Post-Brexit-Status Quo wohl allein hilft: überall dort, wo es hakt, mit ad hoc-Vereinbarungen sich dem Zustand des Freihandels wieder annähern, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, „Rosinenpickerei“ zu betreiben, also die Vorteile des Freihandels für sich zu reklamieren, ohne den Preis des Souveränitätsverzichts zu zahlen – ein Verdacht, der in der EU seit dem Brexit regelmäßig aufkommt, wenn Briten Schritte in Richtung freiem Handel vorschlagen.
Der pragmatische Weg verlangt Geschick, Klugheit und Vertrauen in den Verhandlungen auf beiden Seiten. Es wird sich zeigen, ob davon genug vorhanden ist. Hier könnte auch die große liberale Oppositionsfraktion der Liberal Democrats im Unterhaus eine gewichtige Rolle spielen – als eine Art „politischer Katalysator“. Keine der etablierten Parteien hat seit Jahrzehnten einen derart pro-europäischen Ruf wie die LibDems. Sie sollten diesen Ruf nutzen, um eine Art Masterplan des Pragmatismus vorzulegen, wie Großbritannien und die EU trotz Brexit wieder ein Stück zusammenrücken können, und zwar nicht nur handels-, sondern auch sicherheits- und außenpolitisch.