Foto 
  Karl-Heinz
 
  Paqué
Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Hochwasser
Woran es fehlt: Robustheit und Resilienz

Das deutsche System hat sich in der Vergangenheit wiederholt als nicht ausreichend belastbar erwiesen. Es wird Zeit, Schwachpunkte ausfindig zu machen und zu beheben.
Paqué
©  Thomas Imo/photothek.net

Es war vor elf Jahren, im Juli 2010. Da meldeten die deutschen Tageszeitungen, dass in den ICE-Zügen der Deutschen Bahn in hochsommerlicher Hitze die Klimaanlagen ausfielen. Reihenweise kollabierten dehydrierte Passagiere. Schnell stellte sich heraus, woran es lag: Die Klimatisierung funktionierte grundsätzlich ab 32 Grad Celsius Außentemperatur nicht mehr. Das System der bequemen High-Tech-Züge war einfach nicht darauf angelegt, eine längere sommerliche „Durststrecke“ durchzustehen. Die Fahrgäste mussten auf Ersatzzüge umsteigen – vermutlich solche, bei denen man die Fenster mühelos öffnen konnte, um frische Zugluft von draußen einzuatmen, ganz wie früher zu Zeiten von Dampflok und den traditionellen alten Wagons.

Es war vor rund 15 Monaten, im Frühjahr 2020. Die Coronawelle begann sich über Deutschland auszubreiten. Der Bedarf an Gesichtsmasken zum Schutz vor Infektionen schoss in die Höhe. Die Nation, weltführend in der Produktion von High-Tech-Equipment der Medizintechnik, hatte keine Masken vorrätig. Die Zeiten des Kalten Kriegs, in denen sich noch überall Läger von Materialien für den Kriegsfall aufgestapelt fanden, gehörten der Vergangenheit an. Und zunächst war auch niemand in der Lage, in kurzer Zeit den Angebotsengpass durch die Umrüstung industrieller Anlagen zu beseitigen. Es dauerte Wochen, bis sich die Lage entspannte – durch Importe und schließlich doch Herstellung einfachster Low-Tech-Masken.

Vor wenigen Tagen nun wieder ein Versagen der modernen Technologie – diesmal mit besonders grausamen Folgen. Im Westen Deutschlands kommt es zu einem Starkregen, der in seiner Dimension alles sprengt, was es in den letzten Jahrzehnten gegeben hat und durchaus von der Wettervorhersage prognostiziert wurde. Freilich werden die Menschen nicht frühzeitig und nachdrücklich genug gewarnt. Die digitalen Informationssysteme versagen, weil die Netze wegen des Unwetters zusammenbrechen. Und analoge Instrumente wie die traditionelle Sirene gibt es längst nicht mehr, jedenfalls nicht annähernd flächendeckend. Die furchtbare Bilanz: Tote in dreistelliger Zahl, zum Teil in der Nachtruhe in ihren Häusern weggeschwemmt von den Fluten.

Was haben diese drei Unglücke – ein technisches, ein medizinisches und ein meteorologisches – gemeinsam? Die Antwort ist einfach: Die Menschen verließen sich vergeblich auf das Funktionieren eines Systems, und dieses System erwies sich als nicht robust und nicht resilient. Es war in allen drei Fällen außerstande, den Herausforderungen der spezifischen Situation standzuhalten oder zumindest nicht vollständig zu versagen. Es ging jeweils um ganz unterschiedliche Krisen: beim ICE die Hitzewelle, bei der Pandemie die Infektionsgefahr, beim Unwetter der Starkregen. Aber gemein ist allen dreien, dass die Abschaffung alter Technologie das Problem verschlimmerte statt es zu lösen.

Darin liegt eine Lektion, über die wir dringend nachdenken müssen: Könnte es nicht sein, dass unsere High-Tech-Welt uns immer mehr in anfällige, labile Strukturen lockt, die im Krisenfall verheerend versagen? Gilt das vielleicht auch für das das gefeierte (teil-)autonome Autofahren, die IT-Sicherheit und die waghalsigen Finanzmarktmodelle, die im Übrigen schon mal in der Weltfinanzkrise 2007/8 krachend zusammenbrachen, obwohl Ökonometriker mit Nobelpreisen sie entwickelt hatten? Überall das gleiche Phänomen: Was „im Normalfall“ funktioniert, kann im Extremfall ins Verderben führen, auch wenn es noch so clever konstruiert ist.

Das heißt natürlich nicht, dass man die neuen Technologien nicht nutzen sollte und darf. Aber bevor wir weiter – und durchaus mit Recht – das Hohelied der Digitalisierung singen und ihr folgen, sollten wir sehr genau jene Bruchstellen der Gesellschaft zu orten lernen, wo es im Falle des Systemversagens höchst gefährlich und sogar tödlich enden kann. Dies ist nicht nur eine Frage des Katastrophenschutzes im engeren Sinn. Es geht vielmehr um eine allgemeine Verpflichtung zu einem verantwortungsvollen Vorsichtsprinzip, das nicht nur langfristige Trends wie den Klimawandel, sondern auch stetig lauernde kurzfristige Gefahren in den Blick nimmt. Und dabei zeigt leider die Lebenserfahrung, dass es keineswegs immer die neueste Technik ist, die uns hilft. Vielleicht ist so manche Low-Tech-Lösung wie die Sirene zur Rettung von Menschenleben viel robuster und resilienter als es alle smarten digitalen Systeme jemals sein können!

 

Dieser Artikel erschien am 24. Juli in der WirtschaftsWoche und ist auch hier zu finden.