Tibet
Der Kampf um die Demokratie auf dem Dach der Welt: Tibets Exilregierung und das Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit
Eingebettet in die Ausläufer des Himalayas befindet sich in der nordindischen Kleinstadt Dharamsala die Tibetische Exilregierung. Die sogenannte „Central Tibetan Administration“, kurz CTA, wurde 1959 nach der Flucht des 14. Dalai Lama gegründet und steht in der Tradition der Tibetischen Regierung vor der völkerrechtswidrigen Besatzung Tibets durch die Volksrepublik China (China). Obwohl die CTA offiziell eine Nichtregierungsorganisation ist und von keinem Staat als völkerrechtiche Vertretung eines unabhängigen Tibets anerkannt wird, ist die Struktur der CTA der eines unabhängigen Staates nachempfunden. So gibt es eine Exekutive mit einem Kabinett, dem sogenannten Kashag, mit aktuell 7 Ministerien, die von den Kalon genannten Ministern geführt werden. Diesem Kabinett steht ein direkt gewählter Präsident vor, der sogenannte Sikyong, der maximal zwei Amtszeiten á fünf Jahre das Amt ausführen darf. Dieses Amt wurde 2012 eingeführt, nachdem der Dalai Lama 2011 seine politische Authorität über die Tibetische Exilregierung abgegeben hat. Der Dalai Lama ist seitdem nur noch die oberste religiöse Authorität im Tibetischen Buddhismus und übernimmt keine offiziellen politischen Tätigkeiten.
Neben der Exekutive gibt es auch eine Legislative, das Tibetische Parlament im Exil. Das Parlament hat 45 Mitglieder, welche aus verschiedenen Wahldistrikten kommen. So vertreten jeweils 10 Abgeordnete die drei traditionellen Provinzen Tibets U-Tsang, Do-tod und Do-med. Dazu kommen jeweils zwei Abgeordnete für die vier Glaubensschulen des Tibetischen Buddhismus, sowie für die prä-buddhistische Bön-Religion. Exiltibeter aus dem Rest der Welt nehmen die restlichen fünf Sitze ein, so haben Europa und der Amerikanische Kontinent jeweils zwei Abgeordnete und Australien und Asien (exklusive Indien, Nepal und Bhutan) einen Abgeordneten im Parlament. Besonders hervorzuheben ist die Abwesenheit von Parteien. Dem Parlament stehen ein Sprecher und ein Stellvertretender Sprecher vor. Gewählt wird das Parlament alle fünf Jahre und alle Tibeter ab 25 Jahren besitzen das passive Wahlrecht, das aktive Wahlrecht gilt ab 18 Jahren. Pro Jahr werden zwei Sitzungen abgehalten, in der sechsmonatigen Pause gibt es einen Ständigen Ausschuss mit 11 Abgeordneten. Neben der Exekutive und Legislative gibt es ebenfalls eine Judikative. Diese „Supreme Justice Comission“ ist für zivile Dispute in tibetischen Siedlungen unter der Autorität der CTA zuständig.
Neben der Zuständigkeit für die tibetischen Siedlungen in Indien, Nepal und Bhutan ist die globale Vertretung von Exiltibetern und insbesondere die Verbesserung der Situation von Tibetern in Tibet die zentrale Aufgabe der CTA. Hierbei steht die CTA in Kontakt zu Akteuren auf der ganzen Welt und unterhält ebenfalls Kanäle nach China. Das Anliegen der CTA ist hierbei nicht ein unabhängiges Tibet, sondern ein Tibet mit weitreichender politischer Autonomie, welches jedoch Bestandteil Chinas ist. Dieser sogenannte „Umaylam“ oder „Middle Way Approach“ geht auf eine Initiative des Dalai Lamas zurück, der 1988 erstmals diesen Weg der Mitte vorgeschlagen hatte. Unterstützer des Ansatzes weisen darauf hin, dass dieser mit der Verfassung Chinas konform sei, welche ethnischen Minderheiten weitreichende Autonomierechte in ihren Heimatregionen zugesteht. Auf Basis des Middle Way Approach gab es 2008 ein „Memorandum on Genuine Autonomy of the Tibetan People“, welches China von einer tibetischen Delegation unter Leitung des Dalai Lama vorgeschlagen wurde. Zuvor hatten seit 2002 Gespräche zwischen dem Dalai Lama und der chinesischen Regierung stattgefunden. Die chinesische Seite lehnte den tibetischen Vorschlag jedoch mit der Begründung ab, dass er im Grunde die Unabhängigkeit Tibets bedeute. Seit 2008 befinden sich die Gespräche zwischen der chinesischen Regierung und der CTA in einer Sackgasse. Die Menschenrechtslage für die Tibeter hat sich seitdem weiter verschlechtert.
Besonders besorgniserregend ist die Situation in der Autonomen Tibetischen Region (TAR), wo tibetische Beamte der chinesischen Regierung einen kulturellen Genozid vorwerfen. Dies wird einerseits mit der Sinifizierung des Tibetischen Buddhismus und des kommunistischen Einflusses auf Tibetische Mönche und Nonnen begründet. So ist außerdem auch der Besitz eines Portraits des Dalai Lamas untersagt. Nicht selten sind Geschichten von willkürlichen Polizeieinsätzen, um zu prüfen, ob Privathaushalte nicht möglicherweise ein Portrait des Dalai Lamas besitzen. Auf der anderen Seite wird die Einführung sogenannter patriotischer Bildungskampagnen und die Etablierung chinesischer Internate in Tibet stark kritisiert. So versuche die chinesische Regierung, laut tibetischer Offizieller, mit ihrer Bildungspolitik die tibetische Identität und Kultur innerhalb der jüngeren Generationen zunehmend auszuradieren. So werden tibetische Kinder gezwungen, in Internate zu ziehen. Dort leben sie getrennt von ihrer Familie und erhalten keinen Unterricht in Tibetisch. Dieses Schulsystem startet bereits ab dem Grundschulalter und ist auf Grund der Schließung von Schulen für tibetische Kinder in der TAR zunehmend alternativlos. Laut Dr. Gyal Lo, einem tibetischen Bildungsaktivisten, der aus China geflohen ist, leben in den Internaten bis zu 100.000 tibetische Kinder.
Im Lichte der Menschenrechtslage der Tibeter in China, sowie des mangelnden Interesses Pekings an einer Verbesserung der Situation der Tibeter und steigender politischer Autorität, scheint es für Außenstehende unverständlich weshalb die CTA weiterhin am Middle Way Approach festhält. So basiert der Middle Way Approach auf zwei grundlegenden Prinzipien - Der Nichtanwendung von Gewalt und Frieden – welche von Seiten der Chinesischen Regierung gebrochen wurden und weiterhin gebrochen werden. Jedoch sieht die CTA aktuell keinen anderen Weg. So meinte der aktuelle Sikyong, Penpa Tsering, bei einem Besuch der Friedrich-Naumann-Stiftung Südasien, dass die Anwendung von Gewalt zu keiner Verbesserung der Menschenrechtsituation der Tibeter in China führen würde und ein offener Ruf nach einem unabhängigen Tibet die wenigen informellen Kanäle der CTA nach China in Mitleidenschaft ziehen würden. Da es die zentrale Aufgabe der CTA sei, sich um eine politische Lösung des Tibetdisputs zu bemühen, könne nur eine politische Lösung die Situation der Tibeter in China verbessern. Hierbei wurde auch klar benannt, dass der Middle Way Approach von Seiten der CTA nicht als kurzfristig gedachte Lösung betrachtet wird, sondern als Lösung welche mittel – bis langfristig zu einer Verbesserung der Menschenrechtsituation in Tibet führen soll.
Die CTA wird jedoch nicht allein die Situation der Tibeter in China verbessern können. Hierzu benötigt sie Hilfe von Akteuren auf der ganzen Welt. Insbesondere im Zuge der Olympischen Sommerspiele 2008 in Peking wurde die Welt auf die prekäre Menschenrichtsituation der Tibeter aufmerksam. In den vorhergehenden Jahren waren darüber hinaus die Reiseaktivitäten des Dalai Lamas ein Instrument, um eine weltweite mediale und öffentliche Aufmerksamkeit auf die Belange der Tibeter zu richten. Jedoch hat sich in den vergangenen Jahren die öffentliche Aufmerksamkeit zunehmend auf andere Dispute gerichtet. So sind die Situation der Uighuren in Ostturkestan, die Demokratieproteste in Hongkong, oder der Disput um Taiwan in der öffentlichen Wahrnehmung dem tibetischen Anliegen mittlerweile weit voraus. Um in der öffentlichen Wahrnehmung wieder stärker präsent zu sein, müssen sowohl zivilgesellschaftliche Akteure, wie auch politische Akteure weltweit einen engeren Kontakt zur CTA pflegen. Auch im Lichte des Systemwettbewerbes mit China kann die CTA ein enger Partner sein, der liberal-demokratische Werte pflegt und propagiert. So können im deutschsprachigen Raum zivilgesellschaftliche Akteure, wie die Tibet-Initiative, das Tibethaus Deutschland, die Österreichische Gesellschaft zur Hilfe an das Tibetische Volk, oder die Tibeter Gemeinschaft in Schweiz & Liechtenstein wichtige gesellschaftliche Brückenbauer in die politische Landschaft werden. Darüber hinaus sollte es im deutschsprachigen Raum eine engere politische Kooperation mit den Tibet-Büreaus in Genf und Brüssel geben, den de facto Botschaften der CTA.
Letztlich müssen jedoch politische Taten folgen. Vorschläge hierzu könnten Aktionen in Großstädten zum 2. September, dem Tibetan Democracy Day, politische Feierlichkeiten im Angesicht des 90. Geburtstags des Dalai Lamas, sowie eine engere Parlamentarierkooperation zwischen deutschsprachigen und tibetischen Abgeordneten sein. Denn sicher ist: Die CTA ist ein demokratischer Vorzeigepartner. Sie verdient nicht nur aus geopolitischen Gründen, sondern insbesondere aus ideologischen Gründen die Unterstützung von allen aufrechten Demokraten.