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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Israel
Das Ende von Illusionen

In Deutschland zerplatzen derzeit die Friedensträume der Gesellschaft, einer nach dem anderen. Jetzt ist der Nahostkonflikt dran.
Israelische Flagge

Eine israelische Flagge weht vor dem Brandenburger Tor zur Solidaritätskundgebung gegen den Hamas-Angriff

© picture alliance/dpa | Annette Riedl

Noch eine Zeitenwende. Der barbarische Angriff der Hamas auf Israel hat hierzulande einen Schock ausgelöst. So etwas hat sich die deutsche Öffentlichkeit in ihren dunkelsten Phantasien nicht vorstellen können: Entführungen, Vergewaltigungen, Morde - alles massenhaft und auf israelischem Territorium. Und dabei war man im Grunde vorgewarnt: Die Taliban hatten damit angefangen, alle humanitären Kriegsregeln über Bord zu werfen; der "Islamische Staat" (IS) perfektionierte deren grausamen Praktiken der Unmenschlichkeit; und nun geht die Hamas mit ähnlich barbarischen Mitteln gegen Israelis vor.

Das haben viele Menschen in Deutschland nicht erwartet. Vielleicht mussten sie das auch nicht, weil der legendär clevere israelische Geheimdienst zusammen mit einem hocheffizienten Militär und starken Grenzanlagen den Gazastreifen gegenüber Israel abschottete und Terrorattacken verhinderte. Nun versagten die israelischen Sicherheitsorgane in einem Ausmaß, wie man es hierzulande niemals vermutet hätte - und die deutsche Öffentlichkeit ist erschüttert und entsetzt. Israel ist tatsächlich in seiner Existenz gefährdet - jedenfalls als ein Staat, der die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger vor brutalen Übergriffen garantieren kann.

Die deutsche Politik beeilt sich, Solidarität zu zeigen. Gut so! Das Existenzrecht Israels ist, wie es Angela Merkel ihrerzeit in der Knesset formulierte, Teil der deutschen Staatsräson - weniger als drei Generationen nach dem Holocaust, den Deutsche zu verantworten hatten und haben. So kam es vor dem Brandenburger Tor am vergangenen Sonntag zu einer eindrucksvollen Demonstration für Israel und sein Existenzrecht, bei der sich Politiker aller demokratischen Parteien zu dessen Sicherheit bekannten. Mit unterschiedlichen Schattierungen - sehr weitgehend die FDP und die Union, weniger umfassend SPD und Grüne - ist nun auch die Einstellung der Zahlung von Hilfsgeldern für Gaza gefordert worden, soweit ihr Weg über eine Art Lieferkette der Gewalt in den Waffenkassen der Hamas endet, was offenbar bisher nicht scharf genug überprüft wurde. Das soll sich ändern. Richtig so!

Auch das komplette Verbot der Hamas samt Umfeld und Vorfeldorganisationen steht nun plötzlich auf der Tagesordnung, wozu das zynische Feiern der Morde und Geiselnahmen der Hamas auf der Berlin-Neuköllner Sonnenallee - organisiert durch das Samidoun-Netzwerk der Terrororganisation PLFP ("Volksfront zur Befreiung Palästinas") - maßgeblich beitrug. Zur Gewaltorgie wurden dort Süßigkeiten an Passanten verteilt. Abstoßender geht es nicht.

Insgesamt also ein Weckruf, gewissermaßen noch eine Zeitenwende - nach Russlands Angriff auf die Ukraine. Wirklich? Schaut man genau hin, ist das Bild weniger scharf konturiert. So fiel Simon Strauß, Feuilleton-Redakteur der Frankfurter Allgemeine Zeitung, wenige Tage nach der Hamas-Attacke auf, dass die bekundete Solidarität mit Israel nicht dazu führt, dass dessen Flaggen gezeigt oder gar geschwenkt werden - ganz anders als nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, als deren blau-gelbe Nationalfarben fast überall an Häuserfenstern und auf Straßen des Landes zu sehen waren. Nicht so bei der blau-weißen israelischen Flagge. Sie bleibt ganz rar.

Der Hauptgrund dafür ist, wie so oft in Deutschland, das Ungleichgewicht der Macht. Die Ukraine war in den Augen der Menschen der Underdog, der sich gegen eine imperialistisch ausgreifende Großmacht verteidigte. Israel ist das nicht. Es ist eine hochgerüstete, mit einem starken Raketenabwehrsystem ("Iron Dome") gesicherte Republik, die sich gegen Terroristen verteidigen muss. Das schafft weniger Sympathie. Dies gilt vor allem für die Szene der Kulturschaffenden, die besonders dazu neigt, den "Großen" für böse und den "Kleinen" für gut zu halten - auch wenn die Moral der Ideologie und die Praxis dagegen sprechen. Das erklärt - jedenfalls zum Teil - seit Jahrzehnten die Sympathien für die Palästinenser und vor allem die mangelnde Empathie für Israel in der Kulturszene, die in dieser Woche von Mirjam Wenzel, der Leiterin des jüdischen Museums in Frankfurt am Main, im Deutschlandfunk eindrucksvoll beklagt wurde.

Allerdings: Die israelischen Regierungen unter Netanyahu haben über Jahre viel getan, um dieses Vorurteil zu bestätigen und zu stärken: keine Verhandlungsinitiativen oder Versuche zur Lösung des Konflikts, massive Förderung der Siedler im Westjordanland, Ignorieren selbst bescheidenster Ziele der Palästinenser. Hinzu kommt ihr Versuch, den Rechtsstaat Israels auszuhöhlen - mit einer Justizreform, die von der Opposition und der Zivilgesellschaft scharf kritisiert wird und das Land unnötig gespalten hat. Hinter all dem steht laut Israelischer Freunde eine Arroganz der Macht, die sich jetzt rächt, nachdem man offenbar - ganz praktisch - den Grenzschutz zu Gaza reduziert hatte, um den Schutz von Siedlern (wohlgemerkt: viele davon Likud-Wähler!) im Westjordanland zu stärken. Ein fatales Versagen!

Fazit: Das einfache friedensbewegte Weltbild der deutschen Gesellschaft gehört endgültig der Vergangenheit an. Alle müssen sich auf eine neue Realität einstellen. Der Politik - ob Regierung oder Opposition - gelingt dies anscheinend recht schnell. Die Zivilgesellschaft einschließlich der Kulturschaffenden - sonst hochgelobt für ihre Sensibilität - haben mehr Schwierigkeiten.

So wird der Wandel im Nahen Osten zu einem neuen Element in einer Reihe gewaltiger Herausforderungen, vor der die deutsche Gesellschaft steht. Dazu zählt Russlands Krieg gegen die Ukraine, der u. a. die Illusionen der deutschen Energiepolitik zertrümmerte. Dazu zählt der dramatische Absturz der deutschen Wirtschaftsleistung, der die munteren "De-Growth"- und Entschleunigungsphantasien grün-linker Intellektueller jäh gestoppt hat. Und dazu zählt jetzt auch das, was Israel erschütterte: der grausame Terrorismus der Hamas.