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Krieg in Europa
„Kein Krieg, sondern eine Spezialoperation"

Putins Krieg in der Ukraine in den Narrativen der belarusischen Staatsmedien-Propaganda
Der russische Präsident Wladimir Putin hört dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko zu
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picture alliance / AP Images | Sergei Karpukhin

Lukaschenka hat lange bestritten, am Krieg gegen die Ukraine beteiligt zu sein. Allerdings rücken die russischen Truppen vom belarusischen Territorium aus auf Kyjiw vor und ganze Einheiten der belarusischen Armee stehen offenbar dem russischen Kommando unterstellt entlang der gemeinsamen Grenze einsatzbereit. Darüber hinaus hat Lukaschenka öffentlich zugegeben, dass Raketen aus Belarus auf Stellungen in der Ukraine abgefeuert wurden. Aber auch abseits dessen leistet das belarusische Regime Hilfe für Putin. Ganz zweifelsohne ist es an der Informationsfront so - und wir zeigen auf, wie und mit welcher Wirkung das geschieht.

Wie war es vor der Invasion?

Vor etwa einem Monat begannen seltsame Dinge in belarusischen Nachrichtenagenturen zu passieren. Ihr Nachrichten-Feed wurde fast zu einer vollständigen Kopie der russischen TASS oder RIA Novosti: „Putin hat unterschrieben, Putin hat gefragt, Putin hat unterstützt, Putin hat erklärt, Putin hat betont" - Die belarusischen Staatsmedien begannen, über fast jede Handlung des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu berichten.

Das staatlich kontrollierte Fernsehen (in Belarus gibt es kein anderes) begann, der Ukraine ungewöhnlich viel Sendezeit zu widmen. Das „Bruderland" - wie es früher genannt wurde - ist plötzlich zum „Land von Radikalen und Nationalisten" geworden, hat seinen Status als unabhängiger Staat verloren und ist zu einer „Marionette" geworden, die von „Handlangern im Westen" geführt wird. Dies sind wortwörtliche Zitate aus einem Nachrichtenbericht.

Gleichzeitig versuchte Lukaschenka mit aller Macht, das Bild eines neutralen Beobachters des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln, der Frieden und Sicherheit im Lande garantiert. „Vergessen Sie nicht: Die Regierung und ich als Präsident werden alles tun, damit Belarus eine Insel des Friedens auf diesem verrückten Planeten ist", zitierten ihn regierungsnahe Telegram-Kanäle wortwörtlich. Die Tatsache, dass im Süden von Belarus, nahe der Grenze zur Ukraine, russisches Militärgerät bereitstand, wurde den Zuschauern in keiner Weise erklärt

Worüber schrieben die staatlichen Medien in den ersten Tagen des Krieges?

Es gäbe gar keinen Krieg, sondern eine „Spezialoperation". So nannten die belarusischen Staatsmedien den Angriff Russlands auf die Ukraine. Sie haben die gleichen Narrative wie die russische Propaganda übernommen. Keine Invasion, kein Angriff, keine Aggression, kein Krieg - nur eine „harmlose" militärische Spezialoperation zur Befreiung des ukrainischen Volkes. Wovon? Vor dem Einmarsch in die Ukraine haben sowohl die russische als auch die belarusische Propaganda vergessen, dem Empfängerkreis zu erklären, wovon die Ukraine befreit werden sollte und warum die Offensive nicht nur gegen die Regionen Donezk und Luhansk, sondern auch gegen Kyjiw gestartet wurde.

Bereits nach dem Einmarsch begann die Propaganda, die Bevölkerung von Belarus davon zu überzeugen, dass „sich die Ukraine in den letzten 30 Jahren in eine Brutstätte des Faschismus und Nationalismus verwandelt hat", und dass die Sonderoperation „es ermöglicht, alle faschistischen Strukturen, Organisationen und vor allem die Ideologie im Keim zu ersticken, damit sie sich nicht weiter ausbreiten können". So wird der Krieg gegen die Ukraine von den Propagandisten erklärt, die in Wirklichkeit selbst zu Komplizen dieses Verbrechens geworden sind.

Als ukrainische Städte mit Raketen und Artillerie beschossen wurden, Tausende von Menschen sich vor dem Beschuss in den U-Bahn-Tunneln versteckten und Zehntausende in die Nachbarländer flohen, erklärten uns die vom Lukaschenka-Regime kontrollierten Medien, dass die Ukraine „selbst schuld" sei. Ebenfalls erklärten sie den Unterschied zwischen „Ukrainern (Kleinrussen)" und „den Chochols*“. Sie haben keine Bombardierungen und keine Todesopfer "mitbekommen" und daher ihrem Publikum nicht gezeigt. Kein einziges Bild, fast keine Erwähnung dessen, was in Kyjiw, Charkiw, Sumy oder in der Nähe von Odessa geschah.

Das Fernsehen versuchte aktiv, die Zuschauer davon zu überzeugen, dass die Ukraine „selbst schuld" sei: Es sei das Land, das „die Situation angeheizt" und „Waffen im Land gehortet" habe, was zur Unabhängigkeit der Regionen Luhansk und Donezk geführt habe, und nun versuchten russische Truppen, diese zu verteidigen.

Um das Ausmaß der Propaganda und ihrer Aggressivität zu beurteilen, sei ein Auszug aus einer „Fünf- Minuten-Hassrede" des STV-Moderators Grigorij Asarenok zitiert. Er stellte alle Belarusen, Ukrainer und Russen, die gegen den Krieg sind, auf eine Stufe und bezeichnete sie als „Bestien":

 „Nun, in Russland haben manche Gesinnungsgenossen begonnen, sich zu outen - Urgants und Galkins, Nowaja Gazeta- und Echo Moskwy-Macher und Fans, Sobtschaks und andere liberale Mistkerle. Sie schießen den russischen Kriegern mit ihren dreckigen heuchlerischen ,Ohs‘ und ,Ahs‘ in den Rücken. Bald werdet ihr Abschaum dem russischen Volk die irrsinnige Kohle zurückgeben müssen, die ihr im russischen Fernsehen verdient, und das Geld wird verwendet, um Panzer zu kaufen. Sie werden euch alle dort hineinstecken und schicken, die Banderowzen in Lemberg zu jagen, ihr schändlicher Abschaum. Und irgendein junger Journalist schreibt wahrscheinlich schon an dem Drehbuch für seine Sendung ,Der Judas-Orden‘. Und das ist richtig", wütete Grigorij Asarenok im staatlichen Fernsehen.

Glauben die Belarusen daran?

Nicht alle und nicht ganz. Dem Analysten Pjotr Kusnezow zufolge sind die Stimmungen und Meinungen der Belarusen zum Krieg in der Ukraine geteilt. „Diejenigen, die sich aus dem Internet informieren, sind auf der Seite der Ukraine. Diejenigen, die im Fernsehen leben, sind für Russland. Einfach eine erstaunlich klare Linie", schrieb er am 1. März.

Wie viele Belarusen „leben in der Fernsehen-Welt" und wie viele im Internet?

Belarus ist das Land mit einer der höchsten Internetverbreitungsraten. Bis 2020 hat sich dort ein starker Markt von unabhängigen Online-Medien entwickelt. Im Jahr 2021 hat das Lukaschenka-Regime sie alle blockiert. Nein, das ist keine Übertreibung: buchstäblich alle unabhängigen Medien. Die meisten Redakteure - das ehemalige Team von TUT.BY, Nascha Niwa, Radio Swaboda, Euroradio - waren gezwungen, die Heimat zu verlassen, um ihre Arbeit fortsetzen zu können.

Trotz der Blockade und der Einstufung als „extremistische Quelle" konnten die unabhängigen Medien ihr Publikum halten. Aber in den letzten Monaten wurden sie aktiv aus den sozialen Netzwerken abgemeldet: zerkalo.io hat allein auf Telegram in sechs Monaten mehr als 70.000 Abonnenten verloren. Als der Krieg aber begann, kehrten mehr als 50.000 Nutzer zurück. Im Laufe der Jahre (zerkalo.io ist ein Projekt der unterlegenen TUT.BY-Redaktion) hat sich die Redaktion ein hohes Maß an Vertrauen erarbeitet - durch eine zügige Arbeitsmoral, die gründliche Überprüfung aller Informationen und die vertretenen ehrlichen Positionen. Und das Publikum kehrte zu ihnen zurück. Auch bei anderen unabhängigen Medien ist ein ähnlicher Trend der Rezipienten-Zuwächse zu beobachten.

Wie viele Belarusen sehen fern und glauben der Propaganda? Niemand kann das sagen, weil es in Belarus praktisch keine unabhängigen Untersuchungen gibt. Nach Angaben des regierungsnahen Unternehmens „MediaIzmeritel", die sehr kritisch zu betrachten sind, sehen 60 Prozent der Belarusen täglich fern. Der höchste Konsum beim Fernsehen ist bei Frauen und Männern ab 55 Jahren zu verzeichnen. Die Serien und Filme sind bei den Zuschauern allerdings am beliebtesten.

Laut einer Studie des britischen Analyseunternehmens Sociolytics sehen 43,3 % der Belarusen nie die Programme der regierungsnahen Sender ONT, STV, Belarus 1 und Belarus 2 zusammengenommen. Am wenigsten vertrauen die 18- bis 34-Jährigen dem staatlichen Fernsehen und der Presse. Sie erhalten alle Informationen fast ausschließlich aus ihrem sozialen Umfeld und aus dem Internet.

Wie schreiben die unabhängigen Massenmedien über den Krieg?

Kurz gesagt: sehr detailliert und umfassend. Viele Medien (Nascha Niwa, Zerkalo, Belsat TV, Radio Swaboda) berichten über das, was geschieht im Online-Regime. Sie zeigen, was in dem Land geschieht, beobachten die internationalen Reaktionen, berichten über den Krieg, kolportieren dabei auch die ganz menschlichen Geschichten, liefern Analysen und versuchen herauszufinden, inwieweit das Lukaschenka-Regime in den Krieg verwickelt ist.

Was ist Lukaschenkas Rolle im Krieg zwischen Russland und der Ukraine?

Lukaschenka hat gewiss den russischen Truppen das belarusische Territorium zur Verfügung gestellt, von dem aus sie in die Ukraine vorrücken. Nach der Definition der Vereinten Nationen reicht dies bereits aus, um ein Land als Partei der Aggression zu betrachten. Darüber hinaus werden verwundete russische Soldaten in belarusische Krankenhäuser gebracht. Die Getöteten werden ebenfalls dorthin gebracht. Hubschrauber mit russischen Fallschirmjägern an Bord starten von belarusischen Flugplätzen aus und führen ihre Angriffe gegen Kyjiw durch.

Beteiligt sich Belarus also an diesem Krieg?

Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht Belarus an diesem Krieg beteiligt ist, sondern das Lukaschenka-Regime, das seit August 2020 unrechtmäßig die Macht im Land usurpiert. Heute gibt es in Belarus mehr als 1000 politische Gefangene, und Zehntausende von Menschen haben das Land wegen der Verfolgung verlassen, unter anderem in die Ukraine. Vor anderthalb Jahren erhielt Swjatlana Zichanouskaja - Lukaschenkas Hauptkonkurrentin bei den Wahlen - 56 % der Stimmen (laut der Plattform Golos). Zugleich wird jeder Versuch, in Belarus zu protestieren, mit gewaltsamer Unterdrückung erwidert. Dennoch gingen am 27. Februar Tausende von Belarusinnen und Belarusen erneut auf die Straße, um gegen den Krieg zu protestieren. 800 Personen wurden an diesem Tag festgenommen und verbüßen derzeit Haftstrafen.

Dieser Textbeitrag vom 2. März 2022 stammt von der Journalistin Marta Petrowskaja, einer verifizierten belarusischen Original-Quelle, und wurde aus dem Russischen von Peter Cichon (IJMD) übersetzt bzw. zum besseren Verständnis ergänzt.

 

*Chochol – so wird ursprünglich der traditionelle Haarzopf bezeichnet, jahrhundertelang ein unverwechselbares Erkennungszeichen für Angehörige der freiheitsliebenden ukrainischen Kosakenbruderschaft. Unter Russen benutzt man das Wort jedoch als Schimpfbezeichnung gegen die Ukrainer. In den Augen vieler Russen gelten die Ukrainer oft als gar keine „richtige“ Nation, sondern unvollkommene Russen - gemäß der nationalistischen, imperialen Großrussland-Kleinrussland-Ideologie, die den Landesnamen die Ukraine nicht einmal verwendet.

 

**Im folgenden Artikel werden alle Eigennamen nicht eindeutig russischer Herkunft aus Respekt vor den beiden Nationen ihrem Lautbild nach aus der jeweiligen Landessprache Belarusisch bzw. Ukrainisch ins Deutsche übertragen.