Krieg in Europa
Fahndung gegen die Freiheit
Es ist ein Glück, dass es auch in Russland noch mutige freie Journalisten gibt. Allen voran jene, die Mediazona herausgeben und gestalten. Denn dort wird Putins Politik mit Tiefenschärfe erforscht und analysiert.
So auch bei dem jüngsten Schachzug des Kremls, eine große Zahl von Menschen auf eine "Fahndungsliste" zu setzen. Die prominenteste Persönlichkeit war dabei, wie von den Medien berichtet, die liberale estnische Premierministerin Kaja Kallas. Aber sie stand als Politikerin nicht allein: Ein Staatssekretär der estnischen Regierung, Taimar Peterkop, war auch betroffen, genauso wie die Ex-Ministerin Marija Golubeva in Lettland, dort zusätzlich noch 67 Parlamentarier und 15 Mitglieder des Stadtrats von Riga, in Litauen 6 Mitglieder des Stadtrats von Vilnius, der Oberbürgermeister von Klaipėda und ein Minister sowie in Polen und der Ukraine wenige weitere Politiker oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Alle eint, dass sie beteiligt waren an Beschlüssen, sowjetische Ehrenmale zu beseitigen, was in Putins Russland gezielt in die ideologische Nähe zum Nazi-Revanchismus gerückt wird.
Auffallend ist dabei, dass sich die Fahndungsliste, was Politiker betrifft, weitgehend auf Mittel-und Osteuropa konzentriert. Persönlichkeiten aus dem "Westen" (einschließlich Deutschlands) sind die Ausnahme. Der einzige deutsche Politiker, der betroffen ist, heißt Michael Rubin, ein hochengagiertes Mitglied der FDP aus Frankfurt, ein enger Vertrauter der prominenten Dissidentin Sviatlana Tsikhanouskaya aus Belarus, die im letzten Jahr die Rede zur Freiheit der Friedrich Naumann Stiftung in Berlin hielt. Ihn hat der Kreml möglicherweise irrtümlich nur unter "Belarus" subsumiert und dadurch auf die Fahndungsliste gehievt.
Diese Asymmetrie zwischen Ost und West deutet auf eine wohldurchdachte Strategie des Kremls: Als rechtlicher Anlass, eine politische Person auf die Fahndungsliste zu setzen, dient ein Tatbestand, der sich seinem Wesen nach auf Mittel- und Osteuropa konzentriert, denn dort gibt es die meisten sowjetischen Ehrenmale als Erbe der sowjetsozialistischen Vergangenheit und den größten Widerstand dagegen, diese Erinnerung weiterhin zu pflegen. Ergebnis ist eine ideale Gelegenheit, Teile der "neuen", d. h. postsowjetischen Elite zu kriminalisieren - offenbar in der politischen Hoffnung, einen Keil zwischen West und Ost zu treiben.
Das liberale Europa muss dieser durchsichtigen Strategie entschieden entgegentreten. Vor allem die (nicht-betroffenen) Politiker der westlichen Länder Europas sind aufgefordert, geradezu demonstrativ den Schulterschluss mit den (betroffenen) Repräsentanten des Ostens zu suchen und nach außen zu demonstrieren. Wie bei vielen anderen Konfliktpunkten der Auseinandersetzung mit Russland ist weithin sichtbare Stärke gefragt - und kein verschämtes Wegducken. Bei Kaja Kallas gibt es dazu bald wieder eine schöne Gelegenheit in Deutschland. Sie wird am 19. März 2024 in Berlin den Walther-Rathenau-Preis erhalten.