Marokko, Politik, Gesellschaft
Marokko: Unfassbar
Sprachensalat
Wer aus Europa zum ersten Mal nach Marokko reist, landet wahrscheinlich in Marrakesch. Die ikonische Wüstenmetropole empfängt mit Abstand mehr Touristen als jeder andere Ort im Königreich Marokko. Hier stoßen Reisende nach Verlassen des Flughafens erstmals auf Verkehrsschilder und lesen den Namen der Stadt, in der sie gerade gelandet sind in fremden, arabischen Lettern (مراكش) und in einer anderen, noch fremderen Schrift (ⵎⵕⵕⴰⴽⵛ).
Was anmutet, wie eine Mischung aus Griechisch und Höhlenmalerei, ist Tifinagh, die Sprache der Berber, oder der Imazighen, der „freien Menschen“, wie sie sich selbst lieber nennen. Die Imazighen-Sprache ist neben dem Arabischen eine der beiden offiziellen Amtssprachen des Landes. Viele Menschen im Atlas- und Rif-Gebirge wachsen ausschließlich mit dieser Muttersprache auf und sprechen kein Arabisch.
Die sprachliche Vielfalt ist an dieser Stelle jedoch keinesfalls erschöpft. Besucher, die des Hocharabischen mächtig sind, werden schnell feststellen, dass im „marokkanischen Dialekt“ so ziemlich jedes Wort ein anderes ist. Dass man eine Orange bekommt, wenn man auf Hocharabisch nach einer Zitrone fragt, gehört da noch zu den kleineren Missverständnissen. Manche Sprachwissenschaftler haben angesichts der fundamentalen Unterschiede sogar schon empfohlen, den marokkanischen Dialekt als eigene Sprache einzustufen.
Zum Glück gibt es in Marokko noch eine Reihe anderer Sprachen, mit denen man sich verständlich machen kann. Französisch ist noch immer weit verbreitet, wenn auch kein linguistischer Generalschlüssel zum Königreich, Englisch ist auf dem Vormarsch und wird von der jungen, urbanen Bevölkerung mit Stolz gesprochen und Spanisch ist ein verlässliches tool für den Norden. Fazit: Es gibt keine Sprache, die alle Marokkaner beherrschen. Aber es gibt viele Sprachen, mit denen man versuchen kann, eine Zitrone zu kaufen.
Zwischen Prunk und Pfütze
Der marokkanische Sprachensalat ist nur eine Facette von vielen, die Marokko so vielfältig und so schwer fassbar machen. Eine andere ist der Gegensatz zwischen Arm und Reich, der kaum irgendwo so wuchtig in Erscheinung tritt, wie in den engen Gassen der Altstadt von Marrakesch.
Hier bewegt man sich durch ein enges, dunkles Labyrinth zwischen schnöden Fassaden und muss hoffen, nicht in eine Pfütze aus Fisch- und anderen Säften zu treten oder von einem der zwischen den Menschen durchrasenden Motorrollern angefahren zu werden. Dabei kommt man nicht umhin, die Armut vieler Menschen zu bemerken, die in den Gassen betteln oder versuchen, ihre Handwerkswaren verkaufen.
Hinter kleinen und vollkommen unscheinbaren Türen, die in Deutschland höchstens eines Gartenschuppens würdig wären, finden Besucher dann aber Einlass in prunkvolle und weitläufige Gebäude, so genannte Riads. Es sind Hotels, Restaurants, Museen oder Cafés, die ihre Gäste in einem historischen, palastartigen Ambiente mit atemberaubenden Mosaiken, kleinen Springbrunnen und jahrhundertealten Holverzierungen beglücken.
Das marokkanische Kunsthandwerk sorgt dafür, dass in diesem Land einfach alles immer wahnsinnig ästhetisch ist, egal ob Porzellan, Textilien, Fliesen und Mosaike oder kunstvolle Säulen, Wände oder Decken. Passionierte oder professionelle Instagrammer können hier problemlos Material auf Vorrat sammeln und alle anderen können es einfach genießen, ihre Mahlzeiten in einer filmreifen Kulisse einzunehmen. Pracht und Schönheit finden sich in Marokko meistens hinter verschlossenen Türen. Genauso wie Reichtum – und Alkohol.
Dachterrassen und Doppelmoral
Diesen findet man auf einer der unzähligen Dachterrassen, zum Beispiel in der rooftop-Bar des schicken Hotels „El Fenn“ (die Kunst). Hier tummeln sich junge Menschen, Ausländer wie Marokkaner und genießen Cocktails und laute Musik. Man könnte vergessen, dass man sich in einem muslimischen Land befindet, würde nicht bei Sonnenuntergang der DJ die deep house-Musik kurz runterdrehen, damit der Gebetsruf des Muezzins von der gegenüberliegenden Koutoubia-Moschee hinüberschallen kann. Danach wird wieder Aperol Spritz geschlürft.
Beide Sounds passen zum Land und zeigen, dass die Vielfalt Marokkos auch in den Lebensstilen zum Ausdruck kommt. Für viele Marokkanerinnen und Marokkaner ist es normal, zu daten, eine Freundin oder einen Freund zu haben, im Falle einer Schwangerschaft eine Abtreibung zu erwägen oder homosexuell zu sein. Gleichwohl sind alle diese Lebens- und Verhaltensweisen in Marokko Straftaten und werden von einem großen, konservativen Teil der Bevölkerung mit Verachtung gestraft, vor allem, wenn es die eigene Familie betrifft.
Viele Menschen leben ihre sexuellen und lebensgestalterischen Freiheiten daher in einer strafrechtlichen und gesellschaftlichen Grauzone aus, immer darauf bedacht, den Schein zu wahren. Dabei begegnen ihnen mitunter ganz alltägliche Hindernisse, wenn zum Beispiel potenzielle Vermieter und Hotelbetreiber unverheiratete Paare oder alleinstehende Frauen abweisen. Die Leser dieses Textes können jedoch beruhigt sein: auf Gäste aus Europa werden derlei Regeln nicht angewendet.
Fortbewegung im Königreich
Eine Marokkoreise sollte sich keinesfalls auf Marrakesch beschränken. Auf Besucher warten schließlich noch die beeindruckenden Landschaften des Atlasgebirges, der Sahara und der Atlantikküste sowie die anderen Königsstädte Fes, Meknès und Rabat. Dabei steht für viele dieser Ziele die Eisenbahn als zuverlässiges und bequemes Verkehrsmittel zur Verfügung. Die marokkanische Eisenbahngesellschaft ONCF schlägt die Deutsche Bahn in Sachen Pünktlichkeit (persönliche Einschätzung des Autors) und bietet zwischen Casablanca und Tanger sogar den einzigen Hochgeschwindigkeitszug auf dem afrikanischen Kontinent an.
Die Fahrt mit dem Auto, zum Beispiel von Marrakesch nach Rabat, gestaltet sich auch angenehmer als eine Reise auf der A7 zwischen Kassel und Hamburg (gleiche Entfernung). Man gleitet auf einer breiten und perfekt asphaltierten Mautautobahn dahin und müsste schon großes Pech haben, um in einen Stau zu geraten. Touristen sind meistens überrascht, auf dieser Strecke mehr Porsche Cayennes als Dacia Logans zu sehen. Die Dacia Logans quälen sich abseits der Autobahn gemeinsam mit maroden Bussen und Eselskarren über holprige Landstraßen und durch chaotische Ortschaften. Marokko ist eben beides gleichzeitig: Esel und TGV.
Keine Angst vor Gastfreundschaft
Das Ziel jedes Marokkobesuchers sollte es sein, mindestens einmal von Marokkanern eingeladen zu werden. Das erfordert kein Glück, denn Marokkaner sind ausgesprochen gastfreundlich und neugierig. Es erfordert vielmehr etwas Mut und Vertrauen, denn leider haftet Marokkanern unter Touristen oft der Ruf an, ausländische Besucher grundsätzlich auf die raffiniertesten Weisen abzocken zu wollen. Dies trifft ohne Zweifel auf so manchen angeblichen Stadtführer und routinierten Basarhändler zu, doch abseits der touristischen Epizentren wie den Altstadtmärkten von Marrakesch ist dieses Misstrauen unangebracht und hinderlich. Denn beim Genuss des berühmten Minztees mit Marokkanern lässt sich dieses unfassbare Land am besten fassen.