Georgien
20 Jahre nach Georgiens Rosenrevolution
Die Vergangenheit wird so schnell umgeschrieben, dass man nicht weiß, was gestern geschehen wird.
Am 23. November jährt sich die georgische Rosenrevolution zum zwanzigsten Mal, ein wegweisendes Ereignis in der modernen Geschichte Georgiens. Am 20. Jahrestag der Rosenrevolution bleibt ihr Erbe umstritten, wegen ihrer Bedeutung für die aktuelle georgische Politik und - auch im größeren Zusammenhang – wegen der Auswirkungen der „Farbrevolutionen“ auf viele Länder, die Russland sein "nahes Ausland" nennt. Einerseits hat Georgien im Zeitraum von 2004 bis 2012 große Fortschritte gemacht. Andererseits wird das Land bis heute von vielen vermeidbaren Fehlern heimgesucht, die von den jungen Führern der Rosenrevolution gemacht wurden.
"Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft", lautet George Orwells berühmter Satz aus seinem prophetischen Roman "1984". Dieser Roman ist zu einem Leitfaden für den Kampf um die Vergangenheit geworden, der in Georgien seit 2012 tobt, seitdem der Georgische Traum (GD) die Parlamentswahlen gewann. GD ist ein politisches Konglomerat, gegründet von Bidzina Iwanischwili, der in Russland zum Milliardär wurde. Es war das erste (und bisher letzte) Mal in der Geschichte des modernen Georgiens, dass die Macht durch demokratische Wahlen in andere Hände überging. Die friedliche und geordnete Machtübergabe war eines der wichtigsten Vermächtnisse von Michail Saakaschwili, dem Anführer der Rosenrevolution, und seiner Partei, der Vereinten Nationalen Bewegung (UNM).
Damit bot sich Georgien die einmalige Chance, die Probleme anzupacken, die zum Sturz der Regierung Saakaschwili geführt hatten. Stattdessen begannen die Sieger – die noch immer an der Macht befindliche Partei GD – unmittelbar mit der politischen Verfolgung ihrer Vorgänger. Sie ließ russische Spione als „politische Gefangene“ aus den Gefängnissen frei und hat seitdem keinen einzigen mehr entlarvt. Sie organisierte Gewaltübergriffe gegen Oppositionelle und Minderheiten, die durch Mafia-ähnliche Gruppen organisiert wurden. Ebenfalls förderte sie einen Geschichtsrevisionismus sondergleichen und übernahm in den folgenden Monaten durch eine Reihe von gewalttätigen Übergriffen die Macht in allen kommunalen Selbstverwaltungen.
Die Welt begrüßte den demokratischen Wandel 2012 in Georgien und war sichtlich erfreut über den Sturz der Regierung Saakaschwili, da sie in den westlichen Hauptstädten schon länger in Ungnade gefallen war. Sie ignorierte dabei aber die Demokratierückschritte unter der neuen GD Regierung.
Georgien war gescheiterter Staat
Seitdem hat die Propagandamaschinerie von GD die jüngste Vergangenheit Georgiens immer wieder angegriffen, indem sie die Zeit nach der Rosenrevolution als die "blutigen neun Jahre" bezeichnete.
"Wir haben ein Land geerbt, das buchstäblich ruiniert war", wiederholte Premierminister Gharibaschwili regelmäßig und beleidigte damit all jene, die sich an das Georgien im Jahr 2003 erinnerten und mit der Situation im Jahr 2012 vergleichen konnten.
In der Tat lohnt es sich, daran zu erinnern, wie das Leben in diesem kleinen, aber stolzen Land vor der Rosenrevolution aussah: Im Jahr 2003 war Georgien ein gescheiterter Staat, der von Korruption durchsetzt war. Die Regierung Schewardnadse konnte nicht einmal die geringen Gehälter ihrer Staatsbediensteten zahlen. Die monatlichen Renten beliefen sich auf etwa 8 Euro und blieben monate- und sogar jahrelang unbezahlt. Der Kreml nutzte seinen Einfluss und ernannte oder überprüfte die wichtigsten Minister der Regierung vor ihrer Ernennung (einschließlich der Minister für Verteidigung, Staatssicherheit und Inneres).
Das Land war ein Zufluchtsort für die Bosse des organisierten Verbrechens. Es wurde unter anderem von Verbrechersyndikaten geführt, die Hand in Hand mit denjenigen arbeiteten, die sie eigentlich bekämpfen sollten, d. h. mit der Polizei und dem Staatssicherheitsdienst. Teile Georgiens (z.B. Swanetien und Pankisi) waren gesetzlose Gebiete. Andere Gebiete, wie Adschara und Dschawachetien, waren de facto unabhängig. Adschara wurde von einem starken Mann verwaltet, der direkt Moskau unterstellt war, während Dschawachetien von lokalen Clans geführt wurde, die von der in Achalkalaki stationierten russischen Militärbasis geschützt wurden. Entführungen zur Erpressung von Lösegeld waren an der Tagesordnung. Ausländische Geschäftsleute und zahlreiche Georgier wurden routinemäßig am helllichten Tag verschleppt. Viele wurden getötet. Unter den Entführten und Ermordeten war auch ein Bruder des derzeitigen Bürgermeisters von Tbilissi, Kakha Kaladze. Die Brutalität der Polizei und die häufigen Tötungen von Häftlingen führten nicht zu Straßenprotesten, da dies als unüberwindbare Realität angesehen wurde.
Stromausfälle waren an der Tagesordnung, und trotz des enormen Wasserkraftpotenzials Georgiens gab es nur wenige Stunden Strom pro Tag. Die kritische Infrastruktur war baufällig. Man brauchte fünf Stunden, um von Zugdidi nach Mestia zu fahren, eine Strecke von nur 135 Kilometern. Der einzige verbliebene internationale Flughafen war vollkommen marode. Die postsowjetische Gesetzgebung und eine massive, inkompetente Bürokratie machten wirtschaftlichen Fortschritt nahezu unmöglich.
All dies änderte sich bereits in den ersten Jahren nach der Rosenrevolution.
Fortschritte im Kampf gegen Korruption
Schon bald konnte Georgien bedeutende Fortschritte im Kampf gegen Korruption vorweisen. Die Korruption wurde aus dem Bildungssystem verbannt, und es wurden landesweite schulische Eignungsprüfungen eingeführt, die der zuvor benachteiligten Jugend sowie Minderheiten neue Chancen eröffneten. Nur 6 von 27 Steuerformen wurden beibehalten, während etwa 90 % der bestehenden Lizenzen und Genehmigungen abgeschafft wurden. Dadurch wurden gleichzeitig viele Bereiche mit Korruptionspotenzial beseitigt. Georgiens öffentlicher Dienst wurde zu einem der effizientesten in der Region, indem ein One-Stop/Single-Window-Konzept für die Registrierung von Unternehmen, Zahlung von Steuern, Abfertigung von Waren durch den Zoll sowie die Ausstellung von Pässen, Baugenehmigungen und Lizenzen eingeführt wurde.
Trotz der russischen Energieblockade, des russischen Handelsembargos infolge eines Spionageskandals, der russischen Invasion im Jahr 2008 und der weltweiten Finanzkrise wuchs die georgische Wirtschaft zwischen 2004 und 2012 durchschnittlich um knapp 7 Prozent. Dies führte zu einer grundlegenden Umgestaltung des Landes und ermöglichte die Entwicklung neuer Infrastruktur, die Renovierung von Städten und Kulturstätten sowie die Erhöhung von Gehältern und Renten. Infolge dieser Reformen wurde Georgien von der Weltbank für den Fünfjahreszeitraum 2006-2011 als weltweit führender Reformer bezeichnet.
Gegen Ende der zweiten Amtszeit von Saakaschwili begannen sich jedoch gewisse autoritäre Tendenzen einzuschleichen. Die Unterwanderung der gerichtlichen Unabhängigkeit blieb ein großes Problem. Die Situation in den Gefängnissen war alles andere als akzeptabel, und die Medien und die Wirtschaft beklagten sich über ungerechte Behandlung. Viele Georgier, darunter auch die Generation nach der Rosenrevolution, waren in einem Georgien ohne Kriminalität und Korruption aufgewachsen und wollten ein Land, das sich weiterentwickelt.
Im Jahr 2012 hatte die Welt noch die Illusion, dass Putins Russland ein strategischer Partner und kein Feind sei. Der Westen zog es vor zu glauben, dass ein wiedererstarktes Imperium, das zahlreiche Akte des Staatsterrorismus verübt hatte (Bombenanschläge auf Wohnungen, Litwinenko, Jandarbijew), durch Engagement gebändigt werden könnte. Die Neustart-Politik der USA unter Barack Obama und der naive Glaube der EU und NATO folgten keiner verständlichen Logik. Im Gegenteil ließ sich der Westen von der "Demokratischen Naivität" blenden. Es war eine Politik der Beschwichtigung und Ermächtigung antiwestlicher Regime, die darauf aus waren, die Weltordnung nach dem Kalten Krieg zu zerstören. Es war eine Politik des naiven Wegschauens und des Vorgebens, das Offensichtliche nicht zu sehen.
Ein gefangener Staat
Heute ist Georgien ein gefangener Staat. Zahlreiche glaubhafte internationale Quellen geben an, dass Iwanischwili, dessen Vermögen etwa ein Drittel des georgischen BIP ausmacht, den Staat gekapert und die demokratischen Institutionen zum Gespött gemacht hat. Er hat unbekannte Personen ohne politische Biografie handverlesen und in Machtpositionen gebracht, wobei persönliche Loyalität oft der einzige Faktor für solche Ernennungen war. Premierminister Gharibaschwili, der in Korruptionsskandale verwickelt ist, die jede demokratische Regierung zu Fall bringen würden (z.B. Nutzung des Regierungsflugzeugs für Privatreisen seiner Familienmitglieder und Übertragung von Staatseigentum an seine Frau), ist Iwanischwilis ehemaliger persönlicher Assistent. Der georgische Gesundheitsminister war der Hausarzt von Iwanischwili. Ein anderer Gesundheitsminister während der Pandemie war der Privatzahnarzt von Frau Iwanischwili. Der Innenminister war sein ehemaliger persönlicher Leibwächter. Ein anderer ehemaliger Premierminister und ein ehemaliger Wirtschaftsminister arbeiteten beide in Iwanischwilis familieneigener Bank.
Zum ersten Mal in seiner Geschichte verfügt Georgien über ein sanktioniertes Justizwesen. Im April 2023 verhängte das US-Außenministerium Sanktionen gegen vier hochrangige georgische Richter wegen politischer Korruption und Untergrabung des georgischen Justizsystems. Der subversive Einfluss Russlands ist ein zunehmend offensichtlicher Faktor.
Der frühere Präsident Saakaschwili, die treibende Kraft hinter der Rosenrevolution, ist weiterhin inhaftiert, unter anderem weil er während seiner Amtszeit von seiner alleinigen Befugnis zur Begnadigung von Gefangenen Gebrauch gemacht hat. Im März 2023 versuchte die Regierung Georgiens, ein Gesetz über ausländische Agenten (nach Vorbild des russischen Gesetzes über ausländische Agenten) zu erlassen, das den EU-Integrationsprozess Georgiens offen sabotiert hätte. Das Vorhaben scheiterte jedoch an massiven Protesten.
Die georgische Regierung wird nach wie vor von hochrangigen russischen Beamten dafür gelobt, dass sie sich dem westlichen Druck mutig widersetzt. Gleichzeitig behauptet die georgische Regierungspartei GD weiterhin, dass eine "globale Kriegspartei" versuche, Georgien "in den Krieg zu ziehen" und "eine zweite Front" gegen Russland zu eröffnen (trotz der Aussagen westlicher Diplomaten, dass solche Botschaften direkt aus dem "KGB-Drehbuch" zu stammen scheinen). Vor kurzem haben die USA den ehemaligen Generalstaatsanwalt Otar Partschaladse, einen engen Freund der Familie Iwanischwili, mit Sanktionen belegt und ihn als mächtigen FSB-Agenten identifiziert, der an der Stärkung des russischen Einflusses in Georgien arbeite. Daraufhin forderte die georgische Regierung öffentlich Beweise von den USA. Gleichzeitig änderte die Nationalbank umgehend die Bankvorschriften zum Schutz von Partschaladse, woraufhin drei stellvertretende Vorsitzende der Nationalbank zurücktraten. Organisierte gewalttätige Banden streifen weiterhin ungestraft durch das Land und greifen Minderheiten an, während eine orchestrierte antiwestliche Desinformationskampagne einen bedrohlichen Hintergrund für diese alarmierenden Trends schafft.
Trotz dieser Situation sind die Zukunftsaussichten dennoch gut. Mein persönlicher Optimismus beruht auf der beispiellosen Entschlossenheit der Georgier, ihre Freiheit zu verteidigen, ihr Bekenntnis zu demokratischen Werten und ihr Durchhaltevermögen bis zur vollständigen Integration Georgiens in die EU. Die Willensstärke der jungen Georgier, die nach der Rosenrevolution geboren und aufgewachsen sind, ist offenkundig.
Am 9. November würdigte die Europäische Kommission diese historische Richtungssuche und empfahl dem Europäischen Rat, dem georgischen Volk die brüderliche Hand Europas zu reichen. Die Georgier haben seit Jahrhunderten darauf gewartet, dass sich diese Tür öffnet. Vor zwanzig Jahren, am 23. November, haben wir einen großen Schritt nach vorn getan, um unser Land zu verändern und unsere Zukunft zurückzugewinnen. Wir müssen die raue See, die vor uns liegt, weise navigieren, um Georgien auf der Grundlage gemeinsamer Werte und einer gemeinsamen Vision wieder mit seiner europäischen Familie zu vereinen.
Zaza Bibilaschwili
Vorsitzender
Chavchavadze Center for European Studies and Civic Education