Demonstrationen in Serbien
Der Kampf einer Gesellschaft um sich selbst

Am Wochenende versammelten sich hunderttausende Serbinnen und Serben zu Protesten gegen Präsident Aleksandar Vučić.
© FNFSeit dem Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens, am 1. November 2024 kommt der Balkanstaat mit rund sieben Millionen Einwohnern nicht zur Ruhe. Unter dem Motto „Korruption tötet!“ machen Studentinnen und Studenten ihrem Ärger darüber Luft, dass die autokratische Herrschaft von Präsident Aleksandar Vučić ihnen die Zukunft im eigenen Land raubt. Heute Zwanzigjährige kennen kaum etwas anderes als die allgegenwärtige Kleptokratie der Serbischen Fortschrittspartei, die mit dem Staat praktisch verschmolzen ist.
Seit vier Monaten fordern Studierende in ganz Serbien deshalb rechtsstaatliches Handeln von den Institutionen ein, gleichbedeutend mit einem Ende der Regierung Vučić. Sie blockieren Universitäten, rufen zu Generalstreiks auf, und werden dabei von weiten Teilen der Bevölkerung unterstützt. In über zweihundert Ortschaften war es in den vergangenen Monaten zu Protesten gekommen, zur größten Massendemonstration hatten die Studierenden für den 15. März aufgerufen.
Eine Massenbewegung im wahrsten Wortsinn
Aus Südserbien brechen Gruppen von Studierenden bereits vor einer Woche zu Fuß Richtung Belgrad auf; wohl wissend, dass die Regierung alles tun wird, um Anreisen in die Hauptstadt am Wochenende des Protests zu verhindern. In den Dörfern entlang der Route werden sie mit Feuerwerk und Ćevapi empfangen. Dort, wo regimetreue Bürgermeister die Schulen und Turnhallen zum Übernachten abschließen, öffnen Bürgerinnen und Bürger ihre Haustüren, um jungen Protestierenden ein Bett und eine Dusche anzubieten. Tausende Menschen sind in diesen Tagen überall in Serbien zu Fuß in die Hauptstadt unterwegs.
Präsident Aleksandar Vučić bedient sich derweil der gesamten Palette autokratischen Herrschaftsgebarens: die Proteste seien eine vom Ausland gesteuerte Farbrevolution mit dem Ziel, Serbien zu zerstören, und deshalb „illegal“, verkünden Präsident und Regimemedien unisono. In einer von allen TV-Sendern live übertragenen Ansprache, von der es allein in diesem Jahr bereits über hundert gab, kündigt Vučić an, dass Gewalt mit Gewalt begegnet werde und dass jeder, der „auch nur ein Ei werfe“, wegen Verstoßes gegen die verfassungsmäßige Ordnung verhaftet werde.

Am Freitag gibt die staatliche Eisenbahngesellschaft bekannt, dass „aufgrund einer Bombendrohung“ der gesamte Zugverkehr in Serbien auf unbestimmte Zeit eingestellt werde. Die staatsnahen Busunternehmen stornieren alle Verbindungen nach Belgrad. Und während am Freitagabend zehntausende Bürgerinnen und Bürger den Studierenden aus allen Teilen Serbiens in einem Defilee im Stadtzentrum Belgrads einen ergreifenden Empfang bereiten, läuft im öffentlich-rechtlichen Sender RTS eine Spielshow.
Und trotzdem: in der Nacht auf Samstag sind in allen Belgrader Stadtteilen die Trillerpfeifen der aus dem Stadtzentrum heimkehrenden Schülergruppen zu hören. Spätestens in dieser Nacht werden die Menschen jener Generation, die es versäumt hatte, nach dem Sturz von Slobodan Milošević vor 25 Jahren die serbische Demokratie zu bewahren, im wahrsten Sinne des Wortes wachgerüttelt: Morgen zählt es!
Die größte Demonstration in der Geschichte Serbiens
Am Samstagmorgen treffen Veteranen, Biker und Bauern mit Traktoren im Stadtzentrum ein, um die Demonstrierenden zu beschützen. Zehntausende Bürgerinnen und Bürger aus Serbien bilden Fahrgemeinschaften und machen sich, allen Schikanen und gesperrten Straßen zum Trotz, auf nach Belgrad. Zudem erklären die „Totengräber“ genannten Hooligans von Partizan Belgrad, dass sie die Studierenden bei Angriffen verteidigen werden. Es ist ein Protest quer durch alle Gesellschaftsschichten.
Experten schätzen, dass sich am Samstagnachmittag zwischen 200.000 und 300.000 Menschen rund um den „Slavija“-Kreisverkehr versammeln – mehr als beim Sturz von Milošević. Das serbische Innenministerium gesteht 107.000 Teilnehmende ein. Es ist beeindruckend, wie aus allen Stadtteilen die Menschen zusammenströmen, und sie tun dies friedlich. „Kein Individuum sollte über dem Recht, über den Gesetzen und Institutionen stehen“, ruft eine Studentin von der Bühne aus der Menge entgegen. „Nicht ein Einzelner ist der Staat, wir sind der Staat!“ Es ist eine offene Kampfansage an das System Vučić. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen läuft eine Spielshow.
Die Studierenden hatten angekündigt, dass der Protest absolut friedlich bleiben müsse, wolle man sich glaubwürdig für einen Rechtsstaat einsetzen. Als während der Schweigeminuten für die Todesopfer von Novi Sad Feuerwerkskörper auf Demonstrierende geworfen werden und an anderer Stelle eine Panik ausbricht, brechen die Studierenden die Kundgebung ab und kehren umgehend in die besetzten Fakultäten zurück. Experten sprechen am Folgetag davon, die Panik sei durch den Einsatz einer illegalen Schallkanone ausgelöst worden. Sollte sich dies bewahrheiten, es wäre eine neue Eskalationsstufe des Belgrader Regimes gegen die eigene Bevölkerung.
Serbien, was nun?
Was bleibt von der größten Demonstration in der Geschichte Serbiens, ist eine seltsame Leere. Während Präsident Vučić „die enorme negative Energie und Wut“ zur Kenntnis nimmt und gleichzeitig befindet, dass „die Mehrheit der Serbinnen und Serben“ keine Farbrevolution wolle, kündigen die Studierenden weitere Aktionen an, ohne spezifischer zu werden.
Die Ratlosigkeit liegt auch an den vagen Forderungen der Bewegung: „für Rechtsstaatlichkeit“ und „gegen Korruption“ sind eherne Ziele, doch ohne konkrete politische Schritte kaum zu erreichen. Bisher hatte sich die Studierendenbewegung bewusst von der Politik abgegrenzt, mit dem Argument, dies sei ein gesellschaftlicher Protest. So versammelte man zwar breite Bevölkerungsschichten hinter sich – von nationalistischer Symbolik bis hin zu progressiven Slogans war am Samstag alles zu sehen –, einen gesellschaftlichen Konsens, wie die Ziele erreicht werden sollen, gibt es jedoch nicht.
Präsident Vučić lehnt die Bildung einer Übergangsregierung strikt ab. Dafür werde ihn jemand töten müssen, tönte er gewohnt melodramatisch. Nach den von Betrugsvorwürfen überschatteten Wahlen in den Jahren 2023 und 2024, aus denen seine Fortschrittspartei als Siegerin hervorging, sind Neuwahlen unter den gegenwärtigen Bedingungen keine Option. „In unserem autokratischen Regime sind Wahlen ein Instrument, um Wandel zu verhindern“, beschreibt es Demokratieaktivist Raša Nedeljkov vom Stiftungspartner CRTA.
Aus der EU hört man zu alledem: nichts. Dass die Europäische Union ihnen beisteht, daran glauben viele Serbinnen und Serben schon seit den erfolglosen Protesten 2020 und 2023 nicht mehr. Mag es an der Uneinigkeit unter den Mitgliedstaaten – aus Ungarn, der Slowakei, aber auch aus Moskau erreichten Präsident Vučić Botschaften der Unterstützung – oder an dem Führungsvakuum auf EU- und nationaler Ebene liegen, zu wichtig scheint Vučić für die Stabilität der Region. Dabei ist es eines seiner probaten Mittel, Spannungen in Bosnien und Herzegowina oder Kosovo herbeizuführen, um von Problemen im Inneren abzulenken.
Sowohl die Bürgerinnen und Bürger Serbiens als auch die EU müssen sich entscheiden, was sie möchten: Die einen, ob sie weiterhin ihre diffuse Unzufriedenheit mit dem System ausdrücken möchten oder politisch Verantwortung übernehmen für einen nachhaltig demokratischen Wandel. Die anderen, ob sie Serbien weiterhin als erratische, aber durch Verträge wie das Abkommen über Lithiumabbau kontrollierbar erscheinende Autokratie unter Aleksandar Vučić abtun, oder ob sie die serbische Bevölkerung dabei unterstützen möchten, eine pluralistische und demokratische Gesellschaft auf dem Weg Richtung EU-Mitgliedschaft zu werden. Ein deutliches Signal aus Brüssel könnte die Proteste am Leben erhalten.
Markus Kaiser ist Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für die Staaten des Westbalkans mit Sitz in Belgrad.