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Wir sind hier die Macht

Im Dokumentarfilm “Women Leading Protests” erzählt die Aktivistin und Musikerin Maryna Rusia Shukiurava die inspirierende Geschichte, wie Frauen ihre Macht in der belarussischen Gesellschaft erkannt und eingefordert haben
Women leading protests documentary film: Maryna Rusia Shukiurava
© Friedrich Naumann Foundation for Freedom

Im Dokumentarfilm “Women Leading Protests” erzählt die Aktivistin und Musikerin Maryna Rusia Shukiurava die inspirierende Geschichte, wie Frauen ihre Macht in der belarussischen Gesellschaft erkannt und eingefordert haben

Maryna Rusia Shukiurava ist seit ihrem 18. Lebensjahr Teil der Oppositionsbewegung in Belarus. Sie hat ihre politische Meinung des Öfteren durch ihre Arbeit als Musikerin und NGO-Aktivistin zum Ausdruck gebracht.

Als die umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Sommer 2020 die Protestbewegung auslösten, stand es nicht in Frage, ob sie auf die Straße gehen sollte.

Maryna Rusia Shukiurava quote
© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Was sie dort sah, war der Zusammenprall zweier Mentalitäten -die alte sowjetische, vertreten durch Alexander Lukaschenko und sein System und die neue moderne, vertreten durch eine Generation, die die Freiheit über alles schätzt. Und während die eine verzweifelt versuchte sich an die Macht zu klammern, war die andere bereit für diese Freiheit zu kämpfen.

Zu diesem Schluss kam Shukiurava, als sie die Menschen zum ersten Mal “Wir sind hier die Macht” schreien hörte.

“Mir wurde klar, dass dieser Mann 26 Jahre lang versucht hatte, mir einzureden, dass ich ein Nichts bin. Dass ich kein Recht habe, mich hier zu Hause zu fühlen. Dass ich mit meinen Steuern und meiner Loyalität seinem Regime zu dienen habe. Aber nun sind die Leute wie mich, und nicht dieser Mann, die wahre Macht hier”, schlussfolgert sie.

Für die Künstlerin und Aktivistin ist die belarussische Revolution sowohl eine schmerzhafte und schreckliche Erfahrung wegen der brutalen Gewalt, der die Bürger ausgesetzt waren, als auch die wunderbare Wiedergeburt einer Nation.

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© Friedrich Naumann Foundation for Freedom

Im Dokumentarfilm “Women Leading Protests” der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit erzählt Shukiurava, wie die Protestbewegung nicht nur sie, sondern die gesamte belarussische Gesellschaft veränderte, weil die Frauen die ihnen gebührende Führungsrolle übernahmen.

Die Dokumentation porträtiert vier Frauen, die in Belarus, Hongkong, Venezuela und den Libanon für Demokratie kämpfen. Ihre Geschichten stehen stellvertretend für ein breiteres Spektrum von Frauen weltweit, die sich im Bewusstsein ihrer Macht Gesellschaften in Richtung Fortschritt und Freiheit zu bewegen. Sie zeigen aber auch Regierungen, die rücksichtslos und gewalttätig versuchen, ihren Einfluss zu schwächen.

Frauen an der Front

Im Dokumentarfilm vergleicht Maryna Rusia Shukiurava die Rolle der Frauen während der Proteste in Belarus mit den sanften, liebevollen Händen einer Mutter, die ihr Kind beschützt. Jedes Mal, wenn die Menschen während der Proteste Angst bekamen oder die Lage aussichtslos schien, ließen sich die Frauen etwas einfallen, um sie aufzumuntern. Wenn das Kind rennt und hinfällt, hebt sie es hoch und sagt: „Es ist alles in Ordnung, du schaffst das“ Deshalb waren die Proteste nicht nur friedlich, sondern auch motivierend.

Vor der Revolution spielten die Frauen in der Gesellschaft zwar eine wichtige Rolle, aber im Verborgenen. Um sie zu beschreiben, verwendet Shukiurava eine Metapher, nämlich das russische Sprichwort, das sinngemäß sagt, der Mann solle der Kopf sein und die Frau der Hals, der den Kopf bewegt.

Im Sommer 2020 hatte sich das schlagartig geändert. “Jeder konnte sehen wie stark, mächtig und voller Lebenskraft die Frauen waren. Ich habe die Schwesternschaft der mutigen Frauen wirklich spüren können, und jetzt gibt es keinen Zweifel mehr, wer der Kopf und wer der Hals ist. Frauen sind beides”, sagt Shukiurava.

Maryna Rusia Shukiurava quote
© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Sie glaubt, dass die Oppositionsführerin Svetlana Tsikhanouskaya das Vorbild für diesen Gesinnungswandel war. Als sie sich gegen das Regime auflehnte und im Namen ihres Mannes für Gerechtigkeit kämpfte, zog sie die Scheinwerfer auf sich. Wenn eine Hausfrau, die früher Suppe kochte und ihre Kinder betreute, mutig genug war, dem Diktator die Stirn zu bieten, dann hatten die Männer keine Ausrede mehr, um nicht auf die Straße zu gehen und für die Freiheit zu demonstrieren.

Shukiurava selbst musste schnell einen Weg finden den Spagat zwischen Alltag auf der Straße und die Bedürfnisse ihrer kleinen Tochter zu meistern. “Zwei Tage als revolutionäre Frau und ein Tag als Mutter, so habe ich den Ausgleich gefunden”, erinnert sie sich.

Im Film erinnert sich Shukiurava an den ersten Frauenprotesten vor dem Ausbruch der Gewalt. Die Frauen organisierten sich in einem Telegram-Chat und dachten, dass die Polizei ihnen nichts tun würde, wenn sie ohne Männer auftauchten. Sie versammelten sich auf dem Komarowka-Markt in Minsk und standen da, alle ganz in Weiß gekleidet und sich an den Händen haltend.

“Wir blieben still. Alle waren so verängstigt und zitterten. Ich war mit meiner jüngeren Schwester zusammen und sie fragte mich: Denkst du, sie werden uns schlagen? Ich sagte: Nein, heute nicht”, erinnert sich Shukiurava.

Aber diese Situation dauerte nur einen Tag. Schon bald begann die Polizei, alte Frauen, schwangere Frauen und sogar 14-jährige Mädchen zu verletzen und zu verhaften. “Lukaschenko ist verrückt. Er kennt keine Grenzen”, sagt Rusia und fügt hinzu, dass Frauen genauso wie Männer unter der Polizeigewalt zu leiden haben.

Als ein Aktivist nach dem anderen verschwand, überdachte Shukiurava ihre Entscheidung, in Belarus zu bleiben. Sie hatte ein Baby und musste zuerst an dessen Sicherheit denken.

Eines Abends, nach einer großen Demonstration, beschlossen die Demonstranten, zum Minsker Gefängnis zu gehen, um ihre Unterstützung für alle inhaftierten Aktivisten und Bürger kundzugeben.

Ganz in Schwarz gekleidet, war Rusia entschlossen, dorthin zu gehen, obwohl ihr vor Angst ganz flau im Magen wurde.

In dieser Nacht ist nichts passiert, niemand wurde verprügelt oder verhaftet. Aber als sie nach Hause kam, hatte Shukiurava einen Nervenzusammenbruch. Ihr wurde bewusst, dass sie psychisch am Limit war.

Maryna Rusia Shukiurava quote
© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

“Viele Menschen in Belarus erzählen, sie hätten eine ähnliche Erfahrung wie ich gemacht. Man wird im Nu völlig verrückt. Man kann seinen Körper nicht mehr kontrollieren. Die Belarussen haben so viel Gewalt erfahren, die für den normalen Menschenverstand weder vorstellbar, noch akzeptabel ist”, erklärt Rusia und fügt hinzu: “Ich hatte auch Momente, wo ich dachte, ich würde den Verstand verlieren, müsste ich noch einen solchen Tag erleben."

Ihr wurde klar, dass sie sofort fliehen musste. Innerhalb von 24 Stunden packten sie und ihre Familie ihr Hab und Gut in einen einzigen Koffer und reisten in die Ukraine.

In den ersten Monaten hatten sie Angst, auch nur in die Stadt zu gehen, um einen Kaffee zu trinken, denn der Anblick eines Polizeiautos oder der Klang eines lauten Geräusches erinnerte sie an die traumatischen Erlebnisse in der Heimat.

Jetzt fühlt sie sich in Kiew zu Hause, ist von Familie und Freunden umgeben und kann ihrem Job nachgehen.

Obwohl sie nicht religiös ist, erzählt Rusia, sie würde jeden Tag mit einem Ritual der Dankbarkeit für Ihre Sicherheit beginnen. “Jeden Morgen, wenn meine Tochter aufwacht, küsse ich sie und gehe mit ihr zum großen Küchenfenster, um in den Himmel zu schauen. Und ich sage: Mein Baby, ich bin so glücklich, dass wir in Sicherheit sind”, sagt Shukiurava mit brüchiger Stimme.

Maryna Rusia Shukiurava quote
© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Unterstützung der Revolution aus der Ferne

Diese Aktivistin unterstützt die belarussische Revolution weiterhin aus der Ferne. Sie engagierte sich in der belarussischen Stiftung für kulturelle Solidarität und arbeitet jetzt für “Friida Bell”, eine in Estland ansässige NGO.

Die Stiftung sammelt Gelder zur Unterstützung von Musikern, Künstlern und Schauspielern, die wegen ihrer politischen Ansichten ihre Arbeit verloren haben. Die NGO konzentriert sich auf Frauen und unterstützt weiblichen Aktivismus und Bildung zu den Themen Sex, Gender und Feminismus.

Sowohl in ihrer künstlerischen als auch in ihrer NGO-Tätigkeit setzt sich Rusia Shukiurava mit der Idee einer neuen Identität für belarussische Frauen auseinander. Sie möchte auf den persönlichen Beitrag der Frauen zur Revolution aufmerksam machen, damit dieser nicht mit der Zeit verblasst.

"Wir haben einige hitzige Debatten über die Rolle des Feminismus während der belarussischen Proteste. Für mich war es eine feministische Revolution, weil die Frauen ihre Macht erkannten. Sie waren so mutig, kreativ und unterstützend im Kampf gegen das System. Aber einige aktive Feministinnen aus Belarus widersprechen dem. Sie behaupten, dass die Auseinandersetzung mit feministischen Themen weitgehen unverändert geblieben sind. Frauen gingen als Schwestern, Mütter und Ehefrauen auf die Straße. Obwohl sie auf der Straße gegen das Regime kämpften, hat ihnen keiner die alltäglichen Aufgaben wie Kochen, Putzen und Kinderbetreuung abgenommen“, erklärt Shukiurava.

Sie hofft, dass die belarussische Gesellschaft durch diese Erfahrung die Unterschiede zwischen den Menschen und die liberalen Werte besser akzeptieren wird.

Maryna Rusia Shukiurava quote
© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

“Dank der Revolution konnten wir sehen wie unterschiedlich Menschen in Belarus sind. Bei den friedlichen Märschen sahen wir Vertreter aus vielen gesellschaftlichen Bereichen; zum Beispiel die LGBTI mit ihren Regenbogenfahnen, Menschen mit Behinderungen, die in unserer Gesellschaft Ausgrenzung erfahren, Großmütter und Großväter, Teenager und Menschen, die verschiedenen Religionen angehören“, erinnert sich die Aktivistin.

Shukiurava erwartet, dass dieses gemischte Umfeld zu mehr wahrnehmbare Entspannung, Freiheit und Akzeptanz in der belarussischen Gesellschaft führen wird, so wie man es von den demokratischen Ländern kennt.

Zum weiteren Vorgehen der Oppositionsbewegung in Belarus sagt Shukiurava: “Wir müssen solange auf den Knopf drücken, bis es Wirkung zeigt. Wir haben zu viele Dinge und Menschen verloren. Es gibt kein Zurück.”

 

Maryna Rusia Shukiurava quote
© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

"Women Leading Protests – Fighting for Democracy"

The documentary "Women Leading Protests – Fighting for Democracy" by the Friedrich Naumann Foundation for Freedom tells the stories of four women who were actively involved in the protests in Belarus, Hong Kong, Venezuela and Lebanon in different ways. Their stories represent women all around the world, who are fighting for democratic change in their countries. Several of the protagonists describe how those in power systematically underestimated them, because „they were women“, which the women in turn sometimes used to their advantage. But as their influence grew, so did the violence that many of the governments were willing to use against them. 

Women Protest Leaders Documentary Film
© Friedrich Naumann Foundation for Freedom