Rudolf Haym
Der Chronist der Paulskirche
Am 14. April 2024 wurde in Halle an der Saale ein Gedenkstein zu Ehren von Professor Rudolf Haym auf dem dortigen Friedhof an der Laurentiuskirche eingeweiht. Die Veranstaltung wurde vom Stadtmuseum Halle in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und dem Verein für hallesche Stadtgeschichte e.V. organisiert. Eine der Reden in Erinnerung an Rudolf Haym hielt der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Karl-Heinz Paqué:
Rudolf Haym war vom 18. Mai 1848 bis zum 20. Mai 1849 Mitglied der ersten deutschen Nationalversammlung. Als sie ihre Arbeit aufnahm, war er gerade mal 26 Jahre alt. Mit 22 Jahren hatte er in Halle zum Dr. phil. promoviert, ab 1860 war er dort, später in Berlin und dann wieder in Halle Professor für deutsche Literatur; in den Jahren nach der Revolution war er als Redakteur der „Konstitutionellen Zeitung“ in Berlin und dann der „Preußischen Jahrbücher“ in Halle tätig. Eine kurze Rückkehr in die Politik gab es 1866 – in das Preußische Abgeordnetenhaus als Mitbegründer und Mitglied der Nationalliberalen Partei, die Bismarcks Kurs der Deutschen Einheit unterstützte.
War er ein Politiker? Ich zögere bei der Anwendung dieses Begriffs auf Rudolf Haym. Der Grund dafür ist einfach: Er hinterließ politisch kaum Spuren – und zwar weder in der Nationalversammlung 1848/9 noch im preußischen Abgeordnetenhaus 1866/7. Das hatte seine Gründe, die Rudolf Haym wohl selbst erkannte. Er bezeichnete sich als politischen Idealisten, nicht als politischen Pragmatiker oder Praktiker. Die Ideen des Liberalismus und der Nationalen Einheit waren ihm wichtig, nicht aber detaillierte Parteiprogramme und deren Umsetzung. Er betrachtete sich selbst in der Paulskirche als engagiertes Mitglied der Casino Partei, also des rechten Centrums, das für eine konstitutionelle Monarchie unter preußischer Führung eintrat. Dies war die größte Fraktion in der Paulskirche, unter der Leitung des charismatischen Heinrich von Gagern. Rudolf Haym betrachtete seine Casino Partei als eine offene Gesinnungsgemeinschaft, die kein einheitliches politisches Credo voraussetzte. In den verschiedenen Ausschüssen der Nationalversammlung trat er bis auf eine kleine Ausnahme nicht in Erscheinung. Aus diesen Gründen tritt man Rudolf Haym wohl nicht zu nahe, wenn man bei ihm auf das Attribut „Politiker“ fast völlig verzichtet.
Auf ein anderes Attribut darf man allerdings nicht verzichten: Rudolf Haym war ein begnadeter und leidenschaftlicher Chronist des Politischen. Er hat uns eine Abhandlung über die Geschichte der Paulskirche hinterlassen. Ihr Titel: „Die deutsche Nationalversammlung bis zu den Septemberereignissen. Ein Bericht aus der Partei des rechten Centrums.“ Die Abhandlung umfasst 160 Seiten und wurde noch 1848 publiziert. Ihr folgte 1849 ein zweiter Teil von 362 Seiten. Titel: „Die deutsche Nationalversammlung von den Septemberereignissen bis zur Kaiserwahl. Ein weiterer Parteibericht.“ Und diesem folgte 1850 ein dritter Teil von 195 Seiten. Titel: „Die deutsche Nationalversammlung von der Kaiserwahl bis zu ihrem Untergang. Ein Schlussbericht.“ Also insgesamt 717 Seiten Chronik der Nationalversammlung – übrigens digital kostenlos einsehbar über einen Link bei Wikipedia zu einem kompletten Exemplar der Stanford University.
Es ist ein großartiges Dokument. Sprachlich und stilistisch elegant formuliert, wenn auch nach modernen Maßstäben etwas zu ausführlich und pathetisch. Die Lektüre ist bereichernd, wenn auch manchmal etwas mühsam. Sie zeichnet bis ins Kleinste alles nach, bis hin zu den parlamentarischen Debatten zu allen möglichen, auch weniger bedeutsamen Anträgen. Sie malt – mit Mut zum subjektiven Urteil – auch die Atmosphäre der Paulskirche glanzvoll aus. Hier schreibt eben ein liberaler Geisteswissenschaftler und kein Politiker.
Dabei werden kräftige Meinungen geäußert, positive wie kritische, tatsächlich ganz im Geiste der rechten Mitte, die für eine konstitutionelle Monarchie argumentiert. Die Bewunderung für Heinrich von Gagern ist dabei in jeder Zeile über ihn spürbar. Eine Kostprobe über den 18. Mai 1848:
Die durch die Stürme des ersten Tages Niedergeschlagenen schöpften frische Hoffnung, als Heinrich von Gagern den Präsidentenstuhl einnahm. Würde und Anstand breitete sich auf einmal über die Versammlung aus, die Leidenschaften schienen plötzlich niedergehalten, und aus Verwirrung und Ungestüm tauchte ein fester Punkt hervor, als eine Leitung, umgeben von dem vollen Glanze sittlicher Würde, gewonnen war. (Teil 1, S. 10)
Und weiter:
„Wir haben“, sagte Gagern mit jener Zuversicht des Ausdruckes, welche dem Adel seiner Erscheinung gleichkommt - „wir haben die größte Aufgabe zu erfüllen. Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesamte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der Nation.“ So sprach Gagern, und der Beifallssturm, von welchem diese Worte getragen wurden, gaben ihnen den Werth, daß sie den gemeinsamen Glauben der Versammlung ausdrückten. (Teil 1, S. 10)
Rudolf Hayms Begeisterung über Gagern ist mit Händen zu greifen. Aber auch seine Zustimmung zu den Grenzen, wie sie Gagern ganz im Geiste der rechten Mitte weiter formuliert:
Die weise Beschränkung aber, welche sofort hinzugefügt wurde, die Hinweisung darauf, dass die zu Stande zu bringende Verfassung in der Mitwirkung aller Gliederungen des deutschen Volkes, in der Mitwirkung der Staaten-Regierungen gegründet sein werde, nahm jenen Worten ihre Schärfe und verschaffte ihnen willigen Eingang auch bei denen, welche die Mitwirkung der Regierungen mittelbarer oder unmittelbarer auch für Schaffung der Verfassung in Anspruch nahmen. (Teil 1, S. 10-11)
Also: kein Umsturz im Sinne einer umfassenden Revolution, sondern ein friedlicher Übergang in Zusammenarbeit mit den alten Mächten. An anderer Stelle wird Rudolf Haym da noch deutlicher:
In jeder großen Bewegung, in jeder Revolution gibt es treibende Kräfte, welche alle Politik vereiteln, welche alle Berechnungen in den Schatten werfen. Die abstrakten Prinzipien der Freiheit hatten einmal, in der Revolution von 1789, ihren freien Lauf gehabt und sich unaufhaltsam bis auf’s Ende vollzogen. Wären sie die Bewegung auch dieser gegenwärtigen Revolution, so würden sie gewiss auch unser Volk in jenen Abgrund reißen, aus welchem das französische sich nur mühsam wieder herausfand, so wäre nicht unser, sondern unsern Gegnern wäre der Sieg; die Republik, die Erfüllung der abstrakten Volkssouveränität wäre dann das Unausbleibliche, und aufhalten, aber nicht verhindern könnten wir das Eintreten ihrer blutigen Herrschaft. (Teil 1, S. 24)
Genau in diesem Geist beschreibt Rudolf Haym auch die sogenannte „Parteibildung“ des rechten Centrums. Sie schließt in Hayms Chronik mit der folgenden geradezu poetischen Passage ab, dessen letzte Sätze ich ohne Kürzung zitiere:
Wir hätten sagen können, dass die aufrichtige Herstellung constitutionell-monarchischer Institutionen unser Ziel sei, wir hätten gestehen können, dass wir die Hinüberleitung der vaterländischen Zustände von dem revolutionären Boden auf den Boden des Rechts erstrebten, wir hätten hinzufügen können, dass wir in dem Gedanken der Souveränität der Nationalversammlung eine tiefberechtigte Idee erkannten, dass aber diese Idee die Mitwirkung der Regierungen nicht ausschließe und wir hätten endlich sagen können, dass die Rücksicht auf das Zweckmäßige, auf das praktisch Erreichbare, dass der offene Sinn für das geschichtliche Werden uns höher stehe, als die Eingenommenheit für irgendwelches abstrakte Prinzip; und wir hätten doch mit alle dem das Wesen unserer Partei nur ungenügend bezeichnet. Für den lebendigen Geist der Freiheit, für die edle Begeisterung für den Gedanken nationaler Einheit, für den Tact, mit welchem wir unsere politische Aufgabe lösen wollten, hierfür gab nicht ein Bekenntnis, sondern die Personen eine Bürgschaft. Die ganze Zukunft unserer Geschichte muss Zeugnis für uns ablegen. Wir waren unbekümmert um ein Programm; wir durften noch unbekümmerter um einen Namen sein. Die Stellung zu unseren Gegnern und zu den Nachbarparteien hat uns den Namen des rechten Centrums gegeben. (Teil 1, S. 45-46)
Soweit Rudolf Haym, ein Mann des rechten Centrums in der Nationalversammlung, später ein Nationalliberaler. Ein mitteldeutscher Bildungsbürger. Ein gemäßigter Liberaler der Paulskirche, ein kluger und treuer Gefolgsmann von Heinrich von Gagern, kein radikaler Demokrat wie Friedrich Hecker oder Gustav Struve.
Es gibt aktuell in der Geschichtswissenschaft eine gewisse Neigung, diesen gemäßigten Liberalen im Stil von Gagerns und Hayms ein wenig die Hochachtung zu versagen. Dies gilt vor allem für jene Vertreter der historischen Zunft, die sich heute politisch im weitesten Sinn links der Mitte einordnen. Für sie sind gerade die vielen gemäßigten Liberalen, die letztlich den Geist und die Politik Paulskirche beherrschten, die eigentlichen Spielverderber oder gar Verräter der Revolution. Ihre Bereitschaft, mit den tradierten Autoritäten zusammenzuarbeiten, war in dieser Deutung letztlich der Grund für das Scheitern der Revolution – und damit einer früheren Demokratisierung Deutschlands, als sie die tatsächliche Geschichte dann brachte.
Ich halte dieses modische Urteil nicht nur für sachlich falsch, sondern auch für moralisch überheblich. Diese gemäßigten Liberalen standen für die deutsche Einheit und für den Rechtsstaat. Sie wollten keine blutigen revolutionären Unruhen. Sie wollten einen friedlichen Übergang in eine konstitutionelle Monarchie – vielleicht im Stil Großbritanniens, der von Liberalen vielbewunderten Nation, die gerade dabei war, der Welt zu zeigen, wie eine freiheitliche konstitutionelle Monarchie in der Industrialisierung zu wirtschaftlicher Prosperität und technologischer Führungskraft aufstieg. War das etwa unsinnig? Oder gar feige? Wir sollten auch mit dem späteren historischen Wissen, was wir haben, „with the benefit of hindside“, wie die Briten und Amerikaner sagen, vorsichtig mit unserem Urteilen sein. Wo hätten wir denn damals politisch gestanden?
Aus diesen Gründen verdient Rudolf Haym, der große Literaturwissenschaftler aus Mitteldeutschland, der gemäßigt-liberale Chronist der Paulskirche, unverändert unseren großen Respekt.