EN

Türkei
Öcalans Aufruf zur PKK-Auflösung: Ein Schritt Richtung Frieden?

Jugendliche halten ein Foto des inhaftierten Führers der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, in der Hand,

Jugendliche halten ein Foto des inhaftierten Abdullah Öcalan in der Hand.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Metin Yoksu

Es begann alles mit einem Handschlag. In der ersten Sitzung nach der parlamentarischen Sommerpause am 1. Oktober des vergangenen Jahres ging der Vorsitzende der nationalistischen MHP, Devlet Bahceli, zu den Reihen der pro-kurdischen DEM-Abgeordneten und schüttelte mehreren die Hand. Damals konnte natürlich niemand ahnen, dass diese überraschende Geste fünf Monate später im Aufruf von Öcalan zur Auflösung der PKK münden würde.

Nach den Szenen im Parlament letzten Herbst reisten mehrere Abgeordnete der DEM-Partei insgesamt drei Mal auf die Insel Imrali, wo Öcalan, Gründer und Anführer der kurdischen Terrororganisation PKK, seit mehr als 25 Jahren in Einzelhaft eine Freiheitsstrafe absitzt. Unterdessen schlug Bahceli, der, als er noch nicht mit Präsident Erdogan koalierte, in der Vergangenheit mehrmals und öffentlich die Hinrichtung von Öcalan gefordert hatte, überraschend vor, Öcalan solle unter dem Dach des Parlaments sprechen und die Auflösung der PKK ankündigen. Bahceli stellte ihm im Gegenzug sogar eine Hafterleichterung in Aussicht.

Der historische Aufruf

Knapp fünf Monate später, am vergangenen Donnerstag, verlesen Abgeordnete der Imrali-Delegation in einem Istanbuler Hotel den Brief des PKK-Anführers, zunächst auf Türkisch, dann auf Kurdisch. Der Öcalan-Brief enthält mehrere wichtige Botschaften, die wichtigste jedoch: Die PKK solle die Waffen niederlegen, den bewaffneten Kampf beenden und sich anschließend selbst auflösen.

Bei aller Freude über den möglichen Frieden, der nach mehr als vierzig Jahren bewaffneten Kampf eintreten könnte, bleiben zentrale Fragen unbeantwortet und viele Menschen im Land sind angesichts des gescheiterten „Lösungsprozesses“ von 2013 bis 2015 weiterhin skeptisch.

Wie wird die militärische Führungsriege der PKK in den Kandil-Bergen im Nordirak auf diese Botschaft reagieren? Ist Öcalan überhaupt noch eine Führungsfigur für die PKK-Kämpfer? Was passiert mit all den Kämpfern und den Waffen der PKK nach deren Selbstauflösung? Was passiert mit Öcalan selbst? Hat die Türkei überhaupt die rechtliche Basis für eine friedliche Beendigung dieses blutigen Konfliktes?

Kritiker befürchten, dass es bei der „Türkei ohne Terror“, wie der Prozess seitens der Regierung genannt wird, primär gar nicht darum geht, den bewaffneten Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen PKK zu beenden, sondern um Präsident Erdogan mindestens eine weitere Amtszeit zu ermöglichen. Nachdem mehrere Abgeordnete der Opposition zur Regierungspartei übergelaufen sind, kommt die regierende AKP gemeinsam mit ihren kleinen Koalitionspartnern derzeit auf 324 von 600 Sitzen im Parlament. In den kommenden Wochen und Monaten wird mit weiteren Überläufern gerechnet. Falls die DEM zu einer Verfassungsänderung überredet werden kann, die auch einige Elemente der kulturellen und sprachlichen Gleichstellung der Kurden beinhaltet, könnte die nötige Mehrheit von 360 Abgeordneten erzielt werden, die zu einer vorzeitigen Auflösung des Parlamentes benötigt wird und eine weitere Kandidatur von Erdogan möglich macht.

Bereits 2013 hatte Öcalan zum Rückzug der PKK aufgerufen, allerdings mit der Einschränkung, dass der bewaffnete Kampf weitergehen könnte, falls die Regierung nicht kooperiere. Heute geht Öcalan weiter: Die PKK habe ihren Zweck verloren, Identität und Meinungsfreiheit seien in der heutigen Türkei möglich. Der ursprüngliche Unabhängigkeitskampf sei überholt.

Er geht also über einen bloßen Aufruf zur Waffenabgabe hinaus und fordert die komplette Auflösung der PKK, die er 1978 selbst gegründet hatte. Er argumentiert, in der Türkei von heute gebe es keine Identitätsverleugnung und Meinungsfreiheit sei möglich. Die PKK habe in der Vergangenheit ihre Unterstützung seitens der kurdischen Bevölkerung nur erhalten, weil es keine demokratischen politischen Kanäle gab – nun sei dies jedoch anders.

Was damals als eine Unabhängigkeitsbewegung begann, später in eine Autonomiebestrebung überging, wird nun vom eigenen Gründer für beendet erklärt, mit dem Argument, in der „soziologischen Realität der Türkei von heute“ gebe es keinen Platz dafür.

Nachdem der DEM-Abgeordnete Sirri Süreyya Önder den Brief auf Türkisch vorlas, fügte er am Ende noch einen Satz hinzu, der von Öcalan stammen soll, aber nicht im Brief enthalten ist: „Dieser Prozess erfordert zweifellos die Anerkennung eines demokratischen politischen Rahmens und einer rechtlichen Dimension.“ Warum dieser wichtige Punkt nicht in dem Brief aufgenommen wurde, ist nicht bekannt. Doch die Botschaft zwischen den Zeilen ist eindeutig: Es kann nicht über Frieden gesprochen werden, wenn gleichzeitig die politische Betätigung der demokratischen kurdischen Bewegung kriminalisiert wird.

Ahmet Türk, der ebenfalls am Tisch sitzt und wenige Minuten später die kurdische Version des Briefes vorlesen soll, ist das lebende Beispiel dafür, was Öcalan mit „demokratisch politischem Rahmen“ meint: Türk wurde sowohl 2019 als auch 2024 zum Bürgermeister von Mardin gewählt aber – nur zwei Wochen nach Bahcelis Aufruf im Parlament – seines Amtes enthoben. Nicht nur er, sondern neun weitere Bürgermeister der DEM-Partei wurden seit den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr mit fadenscheinigen Begründungen abgesetzt und durch staatliche Beamte ersetzt. Zudem befinden sich die ehemaligen Vorsitzenden der Vorgängerpartei der DEM, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, seit vielen Jahren wegen „Verbrechen gegen den Staat“ in Haft.

Wie wird der syrisch-kurdische Ableger der PKK auf Öcalans Botschaft reagieren?

Der direkte Adressat von Öcalans Aufruf ist die militärische Führung der PKK, die sich in den Kandil Bergen im Nordirak versteckt. Öcalan erwähnte zwar weder den syrischen Ableger der PKK, die Volksverteidigungseinheiten YPG, noch erwähnte er Syrien explizit, verwendete jedoch die Formulierung „alle Gruppen“ der PKK. Inwiefern die YPG sich durch Öcalans Botschaft angesprochen fühlt, wird sich noch zeigen. Doch es wäre sowieso defizitär, die jüngsten Entwicklungen in der Türkei unabhängig von den politischen Umwälzungen im Nachbarland Syrien oder dem Führungswechsel in Washington zu betrachten. Schließlich kooperieren die USA und die syrisch-kurdische YPG seit Jahren im Kampf gegen den IS.

Klar ist jedoch, dass die YPG nicht ohne eine Vereinbarung mit dem neuen Regime in Damaskus und ohne eine eigene strategische Absicherung die Waffen niederlegen und sich in die Reihen einer zukünftigen nationalen Armee Syriens fügen wird.

Was folgt jetzt?

Es ist zu erwarten, dass in naher Zukunft die militärische Führungsriege der PKK im nordirakischen Kandil zusammenkommt, die Botschaft ihres ideologischen Anführers bespricht und es anschließend zu einer Entscheidung über die Zukunft der PKK kommt.

Es liegt jedoch auf der Hand, dass auch von der Regierung in Ankara verschiedene Schritte erwartet werden. Im Falle einer tatsächlichen Selbstauflösung der PKK bedarf es einer Reihe von rechtlichen Anpassungen der türkischen Gesetze, damit zumindest ein Teil der PKK-Kämpfer in die Türkei zurückkehren kann. Bislang ist nicht bekannt, ob diejenigen, die sich strafbar gemacht haben, mit einer Amnestie rechnen dürfen.

Wird die kurdische politische Bewegung in Zukunft mehr Freiheiten genießen dürfen? Können abgesetzte Bürgermeister der DEM-Partei demnächst ihre Arbeit wieder aufnehmen? Wird es eine neue Verfassung geben, in der zumindest das kurdische Volk und die kurdische Sprache ihre Anerkennung finden? All dies sind wichtige Punkte, die neben der Entscheidung der PKK-Führung in den Kandil Bergen darüber entscheiden werden, ob Öcalans Aufruf tatsächlich in eine nachhaltige Befriedung des Landes münden wird oder nicht.

Selbst wenn es bei der „Türkei ohne Terror“ primär darum gehen sollte, Präsident Erdogan eine weitere Amtszeit als Präsident zu ermöglichen, so würde er sich mit einem erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses ein Denkmal setzen. Zahlreiche Regierungen, Präsidenten und Generäle sind seit der Gründung der PKK daran gescheitert, den bewaffneten Konflikt, der bislang mehr als 30.000 Menschen das Leben gekostet, hunderttausende Menschen in die Flucht getrieben, die Staatskassen mit mehr als 100 Milliarden Euro belastet und die Türkei in Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit um Jahrzehnte zurückgeworfen hat, zu beenden. Eine endgültige Befriedung könnte das große Potenzial dieses Landes zur Entfaltung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hervorbringen.

Dieser Artikel erschien erstmals am 4. März 2025 bei T-Online.

Bei Medienanfragen kontaktieren Sie bitte:

Florian von Hennet
Florian von Hennet
Leiter Kommunikation, Pressesprecher
Telefon: + 4915202360119
Close menu