Steuerschätzung
Die Rechenaufgabe
In der Wirtschaftswissenschaft wird gerne zwischen transitorischen und permanenten Wirkungen unterschieden. Erstere geschehen einmalig und bilden sich dann wieder zurück, letztere bleiben auf Dauer. Diese Unterscheidung ist in normalen Zeiten eine Kategorie für ökonomische Feinschmecker, die sich um Details streiten. Derzeit ist sie aber von überragender Bedeutung, um die Zukunft der öffentlichen Finanzen in Deutschland zu beurteilen – wegen Corona.
Die Pandemie sorgte 2020 und 2021 für einen massiven Bedarf an staatlicher Hilfe und Unterstützung für praktisch alle Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft. Gleichzeitig führte sie – über zumindest zwei längere Phasen des Lockdowns – zu einer dramatischen Abnahme der wirtschaftlichen Aktivität und Wertschöpfung, mit der Folge eines drastischen Einbruchs des Steueraufkommens. Also: scharfer Anstieg der öffentlichen Ausgaben bei gleichzeitiger scharfer Abnahme der öffentlichen Einnahmen. Ergebnis: ein riesiges Finanzierungsdefizit des Staates, im Jahr 2020 189,2 Milliarden Euro, fast 70 Prozent davon zu Lasten des Bundes. Im zweiten Corona-Jahr 2021 wird das Defizit wohl auf einen zweistelligen Milliardenbetrag zurückgehen – deutlich weniger als 2020, aber noch immer hoch, und dies im Wesentlichen aus den gleichen Gründen wie im Jahr zuvor.
Klar ist allerdings: Diese Gründe sind fast ausschließlich transitorischer – und nicht permanenter – Art. Denn sowohl die massiven Auszahlungen von Hilfen, Zuweisungen und Zuschüssen, als auch die Abnahme der Steuereinnahmen verschwinden in dem Augenblick, in dem die Pandemie endet. Dies gilt jedenfalls für die lange Liste der Unterstützungsleistungen für Unternehmen und Soloselbständige in Form von Sofort- und Überbrückungshilfen, die Zuweisungen an den Gesundheitsfonds, der die Krankenkassen stützt, eine Vielzahl von Corona-bedingten Sozialtransfers sowie Maßnahmen der Konjunkturstützung. All dies geht vorüber – vorausgesetzt, die Menschen können nach einer allgemeinen Normalisierung des öffentlichen Lebens wieder ihrer geregelten Arbeit nachgehen.
Die Wirtschaft wird sich von der Krise erholen
Es ist im Grunde die Rückkehr zu der Zeit vor 2020, jedenfalls was die gesamtwirtschaftliche Lage betrifft. Die jüngste Steuerschätzung zeigt dies eindrucksvoll: Auch bei moderaten Wachstumsprognosen wird das Vorkrisenniveau der Steuereinnahmen 2022 schon mit 812 Mrd. Euro um knapp 13 Milliarden Euro übertroffen, um anschließend in den üblichen großen Schritten bis auf 917 Milliarden im Jahr 2025 anzusteigen. Ähnlich wird der Fortschritt in Richtung Haushaltsausgleich auf der Ausgabenseite sein, sobald der vorübergehende Corona-Notstand vorbei ist.
Natürlich lässt nicht ausschließen, dass Corona auch permanente Schwächungen der Wirtschaft und zusätzliche Finanzbedarfe schafft. Dies gilt vor allem dann, wenn das Produktionspotential nachhaltig geschädigt wird. Im verarbeitenden Gewerbe ist dies anscheinend nicht der Fall, wie die bereits einsetzende kräftige Erholung der industriellen Wertschöpfung hoffen lässt. Anders sieht es allerdings bei Freiberuflern, im Kleingewerbe und bei Selbstständigen aus, vor allem im Bereich körpernaher Dienstleistungen. Hier ist zu befürchten, dass doch eine größere Zahl von Unternehmen den Betrieb einstellen wird. Der Bundesverband Freie Berufe sprach jüngst von 300.000 Existenzen, die aufgegeben werden könnten. Es wird sich zeigen, ob dies realistische Schätzungen sind. In jedem Fall kann dies das Produktionspotenzial unserer Volkswirtschaft einschränken und auch die (langfristige) Arbeitslosigkeit erhöhen, da gerade bei körpernahen Diensten minderqualifizierte Beschäftigte überdurchschnittlich tätig sind.
Es ist allerdings derzeit pure Spekulation, wie stark diese dauerhaften Wirkungen ausfallen. Sie liefern jedenfalls keine vernünftige Begründung dafür, schon heute Steuererhöhungen zu fordern, wie es die politische Linke von Grünen über Sozialdemokraten bis zu Die Linke in ihren jeweiligen Programmen tun. Soweit die steigende Steuerbelastung kleine und mittlere Unternehmen träfe, würde sie durch Einschränkung der Rentabilität der Produktion und der Investitionen die Rückkehr zur Normalität des Wachstums noch erschweren.
Lehren aus der Finanzkrise von 2008
Tatsächlich ähnelt die derzeitige Diskussion der Lage nach der Finanzkrise 2008, als das vorübergehende Hochschnellen der Haushaltsdefizite durch Einbruch der Einnahmen und Ausweitung der Ausgaben zu einer Welle der Forderungen nach höheren Steuern führte. Es kam dann aber in wenigen Jahren zum Haushaltsausgleich, und zwar allein durch die wachstumsbedingte Zunahme der Steuereinnahmen vom Vorkrisenjahr 2008 auf das Jahr 2014 um 15 Prozent, genau die Steigerung, die von der Steuerschätzern bis 2025 gegenüber 2019 prognostiziert wird. Klar ist: Geschichte wiederholt sich nicht, aber ihre Lektionen sollte man gleichwohl nie vergessen.