Die Zukunft des Internets
Taiwan kann Ostasiens neuer Internet- und Daten-Hub werden
In der zweiten Aprilhälfte erzielte Taiwan innerhalb einer Woche zwei wichtige Erfolge bei der Konsolidierung seiner regionalen und globalen Positionen in der digitalen Zukunft und im Datenhandel, und zwar mit relativ wenig Getöse und Aufmerksamkeit vor Ort. Steht Taiwan kurz vor der großartigen Gelegenheit, seine Wirtschaft zu transformieren, ohne dass die taiwanische Geschäfts-, Industrie- und Politikwelt das volle Potenzial der Insel kennen?
Am 28. April 2022 veröffentlichten die Vereinigten Staaten und „sechzig Partner weltweit“ gemeinsam die Erklärung zur Zukunft des Internets. Taiwan war einer dieser Partner, zu denen auch die Europäische Kommission und Regierungen aus aller Welt sowie die Vereinigten Staaten selbst gehörten. Da die Unterzeichnenden der Erklärung de facto alles Regierungen waren, wurde die diplomatische Entscheidung, das Wort „Partner“ anstatt „Länder“ zu verwenden, eindeutig getroffen, um Taiwan einzuschließen.
Als Hintergrundinformation wurde das Konzept einer Allianz für die Zukunft des Internets kurz vor Ende des Jahres 2021 vom Weißen Haus der USA vorgestellt und sollte auf dem Gipfel für Demokratie Anfang Dezember bekannt gegeben werden. Allerdings stieß der Plan auf Widerstand von Seiten der Digitalrechte Community und der Technologieindustrie. Es wurde kritisiert, dass der Plan lediglich eine Erweiterung der „Clean Network“ Initiative der Trump-Regierung sei, bei der sich die Allianzmitglieder versprechen, „nur vertrauenswürdige Anbieter“ für die Kerninfrastruktur des Internets zu verwenden, was die Allianz zu einem „No-China“-Club macht. Es fehle der Fokus darauf, dass das globale Internet Werten wie Demokratie, Menschenrechte und freien Zugang folgen müsse. Auch die Zivilgesellschaft und die Internetunternehmen fühlten sich von dem Prozess ausgeschlossen und hatten nicht das Gefühl, Teil der Diskussion zu sein.
Taiwan spielt eine Rolle in der Zukunft des Internets
Infolgedessen wurde die Ankündigung der Allianz einige Tage vor dem Beginn des Gipfels für Demokratie verschoben, bis jetzt. Die Ankündigung der Erklärung am 28. April ist im Vergleich zu einer Allianz der nationalen und territorialen Regierungen etwas abgeschwächt. Die Erklärung selbst richtete ihren Fokus auf eine stärker prinzipienorientierte Vision für das Internet, die auf Menschenrechten und Grundfreiheiten basiert, darunter Meinungsäußerung und Pluralismus, besserer Zugang und Erschwinglichkeit, Sicherheit und Privatsphäre, fairer Wettbewerb, und eine vertrauenswürdige und sichere Infrastruktur. Wahrscheinlich als Antwort auf die aktuelle „Splinternet“-Kontroverse, die durch die russische Invasion in der Ukraine entstanden ist, betont die Erklärung ein globales Internet und die Notwendigkeit, die Abschaltung und Blockierung rechtmäßiger Inhalte und Dienste, sowie freier Datenflüsse zu unterlassen.
Die Erklärung in vielerlei Hinsicht ist bedeutend und könnte der Auftakt sein für eine Reihe internationaler Lobbying-Aktivitäten zur Vorbereitung der wichtigen Wahl des nächsten Generalsekretärs der Internationalen Telekommunikations-Union (ITU), dem technischen Gremium der Vereinten Nationen (VN), das für die weltweiten Telekommunikationsstandards und -regelungen zuständig ist. Bei der Wahl später in diesem Jahr werden ein russischer und ein amerikanischer Kandidat gegeneinander antreten. Angesichts der Tatsache, dass China und Russland „vollständig kooperieren“, um nicht nur die ITU zu dominieren, sondern auch die globale Internetgovernance von der Multistakeholderorganisation ICANN auf die ITU – und damit die Hände der nationalen Regierungen - zu verlagern, könnte die Unterzeichnung der Deklaration eine der bisher sichtbarsten Aktionen darstellen, um den Bemühungen Chinas und Russlands entgegenzuwirken.
Obwohl Taiwan weder Mitglied der VN noch der ITU ist, ist die Aufnahme Taiwans unter den demokratischen Verbündeten und ihr Bestreben, „das Versprechen des Internets zurückzugewinnen“, wie die Erklärung beschreibt, symbolisch und bedeutsam. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass trotz des US-amerikanischen Fokus auf den indopazifischen Raum in den letzten Jahren, die Erklärung nur von relativ wenigen asiatisch-pazifischen Partnern unterstützt wurde, nämlich nur von Australien, Japan, Neuseeland und Taiwan sowie von pazifischen Inseln wie den Marshallinseln, Mikronesien und Palau. Wichtige asiatische Länder und führende Technologienationen wie Indien, Südkorea und Singapur fehlen. Dadurch fällt Taiwan noch mehr auf.
Die Nachricht, dass Taiwan Teil der von den USA geführten Erklärung ist, wurde in Taiwan jedoch nur in relativ geringem Umfang von der Presse beachtet. Das Hauptaugenmerk lag auf der Digitalministerin Audrey Tang, die die Regierung bei der Online-Unterzeichnungszeremonie mit anderen globalen Partnern vertreten hat. Die Zeitungen wiederholten vor allem die Pressemitteilung des Außenministeriums in eher schlichtem Wortlaut, und es gab kaum Kommentare oder Analysen zu ihrer Bedeutung.
Taiwan spielt eine Rolle bei der Festlegung globaler Datenregeln
Ebenfalls eine Woche vor der Ankündigung der Erklärung für die Zukunft des Internets wurde Taiwan am 21. April 2022 zusammen mit Kanada, Japan, den Philippinen, Singapur, Südkorea und den USA Mitglied des Global Cross-Border Privacy Rules Forums (CBPR), diesmal unter dem Namen „Chinese Taipei.“ In der Stellungnahme von US-Handelsministerin Gina Raimondo heißt es, dass das Forum „beabsichtigt, die Global Cross Border Privacy Rules und die Privacy Recognition Processors (PRP) Systeme einzuführen, die allerersten Datenschutz-Zertifizierungen, die Unternehmen helfen, die Einhaltung international anerkannten Datenschutzstandards zu beweisen.“ Das „APEC CBPR“ System wird gegenseitige Anerkennung und zuverlässige internationale Datenflüsse fördern.
In einer Pressemitteilung des taiwanischen Außenministeriums heißt es, die Aufnahme Taiwans in dem Forum werde sich positiv auf die „internationale Zusammenarbeit beim Datenschutz und die Entwicklung des grenzüberschreitenden digitalen Handels“ auswirken. In der Tat können die Möglichkeiten für Taiwan weit über diese allgemeine Beschreibung hinausgehen.
In den letzten Jahren waren die USA und die EU in einen langjährigen Streit über Datenübermittlungen verwickelt. Die EU hat mit der Einführung sehr umfassender Gesetze zur Privatsphäre und zum Datenschutz eine Vorreiterrolle übernommen, während die USA dies noch nicht geschafft haben. Im März 2022 haben die USA und die EU jedoch endlich ein Abkommen zur Datenübermittlung geschlossen. Im Jini 2021 ist Chinas Gesetz zur Datensicherheit in Kraft getreten, das ein umfangreiches Regime für seine Daten- und Sicherheitsverwaltung erschafft. Es beinhaltet Regelungen zur Daten-Souveränität und Anforderungen an die Speicherung vor Ort, mit einem Schwerpunkt auf der nationalen Sicherheit. Daten sind vielleicht das neue Öl, aber ohne die Pipelines und die Abkommen zur Übertragung und zum Austausch dieser Daten werden die wirtschaftlichen Potenziale nicht voll realisiert.
Im Vergleich zur Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) der EU gibt es in Asien keinen umfassenden regionalen Rahmen für Daten und Privatsphäre, und die Regulierungssysteme in den Ländern und Gebieten können sehr unterschiedlich sein, sofern sie existieren. Die CBPR-Initiative der USA ist offensichtlich ein Versuch, Chinas Einfluss entgegenzuwirken und eine Führungsrolle zu übernehmen und den Schwerpunkt auf die Datenübermittlung und die damit verbundenen Geschäftsmöglichkeiten zu legen. Im Vergleich dazu konzentrieren sich die chinesischen Regelungen eher darauf, Unternehmen zu zwingen, Daten im Inland zu behalten. Insofern kann Taiwan eine entscheidende Rolle spielen.
Taiwan kann die von Hongkong hinterlassene Lücke füllen
In den letzten Jahren hat Taiwan Fortschritte bei seiner Internet-Infrastruktur gemacht und eine respektable regionale Präsenz aufgebaut. Große US-Technologieriesen wie Google und Meta haben Taiwan zusammen mit Singapur, aber anstelle von Hongkong, als Standort für ihre regionalen Rechenzentren gewählt. Als Google und Meta gemeinsam in den Bau des ersten direkten transpazifischen Unterseekabels – des Pacific Light Cable Network (PLCN) – zwischen Kalifornien und Hongkong investierten und die US-Regierung schließlich die Genehmigung für das PLCN verweigerte, Hongkong zu erreichen, mussten Google und Meta ihren Plan ändern und das PLCN stattdessen in Taiwan enden lassen, um die Zulassung der USA zu erhalten. Im Rahmen des PLCN „Abkommen zur nationalen Sicherheit“ zwischen Google und Meta und der US-Regierung haben die Investoren zugestimmt, „die Diversifizierung der Zusammenschaltungspunkte in Asien zu verfolgen, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Indonesien, die Philippinen, Thailand, Singapur und Vietnam.“ Das könnte bedeuten, dass diese Länder über Taiwan verbunden werden.
Anders gesagt, Taiwan ist in der Lage, zumindest einen Teil der Lücke als Telekommunikations- und Internet-Hub in der Region zu füllen, die Hongkong hinterlassen hat: Die Position Hongkongs ist seit der Einführung des nationalen Sicherheitsgesetz von Peking im Jahr 2020 und den folgenden politischen Repressionen, gefolgt von verschiedenen US-Sanktionen, beeinträchtigt. Obwohl Taiwan nicht in der Lage ist, Hongkong als Bindeglied zum chinesischen Festland und der Greater Bay Area zu ersetzen, hat es gute Chancen, einen Teil des regionalen und internationalen Datenverkehrs und der Datenflüsse in Ost- und Südostasien zu übernehmen. Dies gilt besonders für neue Zuwächse bei der Nachfrage, denn die nicht-chinesische internationale Kapazität Hongkongs wird in der absehbaren Zukunft, wenn überhaupt, nur viel langsamer wachsen als bisher.
Dies könnte eine perfekte Gelegenheit für Taiwan sein, sich das Ziel zu setzen, das regionale Dienstleistungszentrum für Internet, Daten und Technologie Ostasiens zu werden, so wie Singapur in Südostasien. Seit Jahren versucht Taiwan, seine industrielle Basis und seine Abhängigkeit vom Halbleiter-, Elektronik- und Herstellungssektor zu diversifizieren. Auch wenn Taiwans Prognosen für seine Halbleiterindustrie immer noch gut aussehen, ist es immer klüger, in guten Zeiten nicht alles auf eine Karte zu setzen.
Nächste Schritte für Taiwan – Was soll Taiwan tun?
Ich schlage daher die folgenden Schritte vor, damit Taiwan seine große Vision, seine immaterielle Infrastruktur und seine Qualifikationsbasis verbessern kann:
- Einführung einer Strategie zur digitalen Wirtschaft Taiwans, die alle Aspekte der digitalen Transformation der Regierung und der Industrie abdeckt, ausländische Investitionen anzieht und Forschung und Entwicklung sowie Bildung und die Entwicklung der Arbeitskräfte unterstützt, und die Welt wissen lässt, dass Taiwan mehr als nur Halbleiter und Elektronik bietet.
- Aktualisierung der Rechts- und Regulierungssysteme zum Schutz der Daten und Privatsphäre sowie der Telekommunikation mit Blick auf die Liberalisierung und die Anziehung internationaler Investition und eines verstärkten Daten- und Dienstleistungsaustauschs mit anderen asiatisch-pazifischen Ländern. Taiwan sollte sich außerdem an das Niveau beim Datenschutz und der Datenregulierung Europas und anderer führender Länder annähern.
- Intensivierung der Bemühungen um die Entwicklung des Telekommunikations- und Internetsektors durch Nutzung der bereits erzielten Fortschritte bei den Datenzentren und der Infrastruktur, und Anziehung weiterer Investitionen und Ausbau der regionalen Vernetzung und Kapazität mit den ostasiatischen Nachbarländern wie Japan und Südkorea sowie den USA.
- Lernen vom Vorbild Singapurs und Verhandlung bilateraler Abkommen über digitalen Handel und Datenübermittlung mit anderen Ländern, wie das von Singapur vorgeschlagene Abkommen mit dem Vereinigten Königreich.[1] Da es unwahrscheinlich ist, dass Hongkong in naher Zukunft Datenhandelsabkommen mit führenden westlichen Volkswirtschaften abschließt, ist Taiwan in einer guten Ausgangsposition, diese Aufgabe zu übernehmen.
Es ist nicht notwendig, das aufzugeben, was Taiwan bisher gut gemacht hat, aber dies ist die beste Chance für das Land, in neue Bereiche des wirtschaftlichen Wachstums zu erweitern und zu diversifizieren, was nicht nur Taiwan zugutekäme, sondern auch seine regionale strategische und wirtschaftliche Bedeutung mit Hilfe und Unterstützung der Partnerländer stärken würde. Das kann eine echte Win-Win-Situation sein.
[1] UK-Singapore Digital Economy Agreement: final agreement explainer https://www.gov.uk/government/publications/uk-singapore-digital-economy-agreement-explainer/uk-singapore-digital-economy-agreement-final-agreement-explainer
*Charles Mok ist Gastwissenschaftler beim Global Digital Policy Incubator of the Cyber Policy Center an der Universität Stanford. Von 2012 bis 2020 hat er als Mitglied des Parlaments die Informationstechnologie im Legislativrat Hongkongs vertreten.