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Türkei
Brain-Drain: Die Abwanderung türkischer Ärztinnen und Ärzte

Streik Ärzte Türkei

Der türkische Ärzteverband und die Ärztekammern organisierten einen Streik am 8. Februar 2022

© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Tolga Ildun

Mit dem Anwerbeabkommen von 1961 wuchs die Bevölkerung Deutschlands um fast eine Million türkische Staatsangehörige. Damals waren es vor allem gering ausgebildete Arbeitskräfte, die in deutschen Fabriken eingesetzt wurden und dem Land zu neuem wirtschaftlichen Aufschwung verhelfen sollten. In gewisser Weise scheint sich nun die Geschichte zu wiederholen. Seit Jahren ist es jedoch vor allem hoch ausgebildetes Fachpersonal, das der Türkei den Rücken kehrt. Der Brain-Drain in Richtung Europa und Nordamerika findet aus fast allen Branchen statt, vor allem unter Ärzten, Professoren und Ingenieuren. Dies führt unweigerlich zu rückläufigen Zahlen des qualifizierten Fachpersonals in der Türkei.

Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, in denen der Brain-Drain am stärksten zu beobachten ist. Nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes ist die Zahl der abwandernden Medizinerinnen und Mediziner insbesondere in den letzten vier Jahren explodiert. Während im Jahr 2012 insgesamt nur 59 von ihnen ins Ausland gingen, kehrten zwischen 2017 und 2021 fast 4.400 Ärztinnen und Ärzte der Türkei den Rücken. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2021 verließen 1.111 von ihnen das Land.

Interessant ist, dass die Mehrheit der abwandernden Ärztinnen und Ärzte ihr Studium gerade erst abgeschlossen hat. Offenbar sehen gerade junge Mediziner die eigene Zukunft nicht mehr in der Türkei. Viele absolvieren parallel zum Studium Fremdsprachenkurse und tauschen sich in Foren über Arbeitsmöglichkeiten im Ausland aus. Mittlerweile gibt es sogar Beratungsfirmen, die Interessierte auf ihrem Weg ins Ausland unterstützen.

Eine der Hauptursachen für die Abwanderung ist die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Ärztinnen und Ärzten. Die türkische Ärztekammer meldete im Jahr 2020 insgesamt 11.942 Fälle von Gewalt gegenüber medizinischem Fachpersonal, darunter auch mehrere Todesfälle. Dies führt zu einem defensiven Berufsverständnis unter Ärzten: Immer mehr von ihnen überdenken riskante Eingriffe, da sie Angst vor Gewalttaten durch Angehörige der Patienten haben. Eine Folge ist, dass gerade die erfolgreichsten Studierenden weniger risikoreiche medizinische Branchen bevorzugen. Da Ärztinnen und Ärzte auch von Seiten der Politik und Gesellschaft keine Unterstützung erfahren, sondern Übergriffe vielfach toleriert und sogar bagatellisiert werden, verstärkt sich die Abwanderungsbereitschaft zunehmend.

Ein weiterer Grund für die Abwanderung ist die wirtschaftliche Lage in der Türkei. Innerhalb der vergangenen Jahre ist die Inflation im Land drastisch gestiegen. Nach offiziellen Angaben des Türkischen Statistischen Instituts (TUIK) lag die Verbraucherinflation im Februar 2022 um 54,44 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Die unabhängige Inflationsforschungsgruppe ENAG gab für den gleichen Zeitraum sogar eine Inflation von 123,80 Prozent an. Dies sorgt zusammen mit der stetigen Abwertung der Türkischen Lira für zunehmende Existenzängste im Land.

Darüber hinaus klagen viele Ärzte und Ärztinnen über Ungerechtigkeiten im türkischen Gesundheitssystem. In vielen Krankenhäusern führt Vetternwirtschaft in der Verwaltung zu Diskriminierungen. Ebenso abschreckend wirkt der verpflichtende Dienst für Medizinerinnen und Mediziner in abgelegenen, peripheren Gebieten der Türkei.

Auch in der türkischen Politik wird die Problematik öffentlichkeitswirksam diskutiert. Dabei gibt es unterschiedliche Perspektiven. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan äußerte sich in seiner Rede am 8. März 2022 auf einem Treffen der Frauenzentrale deutlicht: „Ich spreche Klartext, ich bin gerne ehrlich und direkt. Wenn sie gehen, lasst sie gehen. Ich gehe sogar noch weiter: Wenn Bedarf besteht, laden wir Bürger aus dem Ausland ein und stellen sie in unserem Land ein.“ Er warf den auswandernden Medizinern vor, lediglich aus finanzieller Motivation zu handeln. Ali Babacan, Parteivorsitzender der DEVA-Partei, warf dem Staatsoberhaupt daraufhin vor, die Bevölkerung gegen das ärztliche Fachpersonal aufzuhetzen.

Ob sich der Brain-Drain aufhalten lässt, hängt  vermutlich von zwei Faktoren ab: der wirtschaftlichen Stabilität der Türkei und der Bereitschaft der Politik, die Rahmenbedingungen für den Berufsstand zu verbessern. Sollte sich nichts verändern, steht der Türkei in den kommenden Jahren zweifelsohne ein ernstes Problem mit der medizinischen Versorgung der Bevölkerung bevor.