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Türkei
Gezi-Prozess

Ein erbarmungsloses Urteil, neue alte Verwerfungen und eine düstere Zukunft
Politische Aktivisten demonstrieren zusammen mit anderen Demonstranten vor der türkischen Botschaft in Berlin

Politische Aktivisten demonstrieren zusammen mit anderen Demonstranten vor der türkischen Botschaft in Berlin

© Getty Images Omer Messinger

Die tiefsitzende Angst der Regierung vor zivilem Protest, ihre ausgeprägt ablehnende Haltung gegen Umweltreformen, die völlige Missachtung der Rechtsstaatlichkeit, eine schockierend hohe Bereitschaft zur Brutalität und toxischer Stolz – all das findet sich im Gezi-Prozess und dem daraus resultierenden Urteil wieder.

In der abschließenden Anhörung am 25. April wurde der Bürgerrechtler Osman Kavala wegen "versuchten gewaltsamen Umsturzes der türkischen Regierung" durch die Organisation der Gezi-Park-Proteste zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht verurteilte außerdem sieben weitere Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler zu 18 Jahren Haft, weil sie Kavala unterstützt haben sollen. Das Urteil erging in einem Wiederaufnahmeverfahren, nachdem 2020 zunächst alle Angeklagten freigesprochen worden waren.

Nationale sowie internationale Menschenrechtsgruppen haben den Prozess einmütig als Scheinprozess bezeichnet. Schon 2019 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) keine ausreichenden Beweise für eine Rechtfertigung der Anschuldigungen gegen Kavala gefunden und seine sofortige Freilassung gefordert. Daraufhin wurde durch das Ministerkomitee des Europarats (CoE) ein Verfahren gegen die Türkei eingeleitet, was zu einer Aussetzung der Stimmrechte im CoE wegen Nichteinhaltung des EGMR-Urteils führen könnte.

Der politische Charakter des Falles ist so evident, dass jedes weitere Wort darüber den Staatsanwälten und Richtern zu viel Ehre antun würde. Das Urteil hat jedoch leider – wieder einmal – eine beunruhigende Wahrheit über den progressiven Teil der türkischen Gesellschaft ans Licht gebracht.

Reaktionen auf das Urteil aus dem progressiven Lager

In den Stunden nach dem Urteilsspruch richtete sich die Wut in den sozialen Medien zunächst gegen das eigene fortschrittliche Lager. So twitterte der Abgeordnete der Arbeiterpartei der Türkei (TİP), Ahmet Şık: „Jeder, der keinen Einspruch erhoben hat, ist für dieses Urteil verantwortlich. Diejenigen, die sich selbst als kritisch bezeichnen, aber schweigen, sind dafür verantwortlich. Diejenigen, die gegen die Regierung sind, sollten in den Spiegel schauen und sich fragen: Was sind wir für Menschen, die ihre Freunde an dieses Gericht ausliefern?” Die Schriftstellerin Ayşen Şahin kritisierte in einem Tweet diejenigen, die die Anhörungen nicht vor Ort verfolgten: „Glaubt ihr, dass diejenigen, die so viele Jahre lang bei jeder Anhörung ihren Kopf hochgehalten haben, jetzt brauchen, dass ihr euch die Sache mit einem unenthusiastischen Tweet zu eigen macht? Wo zur Hölle wart ihr denn die ganze Zeit?”

Diese ersten Reaktionen entstanden im Eifers des Gefechts und spiegeln womöglich nicht die wahren Gedanken der Verfasser wider (Şahin löschte ihren Tweet später), enthalten dennoch ein hohes Maß an fehlgeleiteter Wut.

Andere kritische Stimmen waren gemäßigter: „Eine lebenslange Haftstrafe. Ich kann nicht umhin, das zu sagen, aber das ist ein Satz, den die Kurden so oft hören: Es tut mir leid.”, twitterte die Journalistin Sabiha Temizkan und kritisierte das Schweigen und die fehlende Solidarität gegenüber inhaftierten kurdischen Politikerinnen und Politikern sowie journalistisch tätigen Personen, die sich ähnlichen Prozessen stellen müssen.

Hunderte hochrangige Politikerinnen und Politker der Kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP) sind in der Türkei weiterhin inhaftiert, darunter auch ihr ehemaliger Vorsitzender Selahattin Demirtaş. In 51 der 65 von der HDP gewonnenen Gemeinden setzte die Regierung die gewählten Bürgermeister ab und ernannte Zwangsverwalter an ihrer Stelle. Reaktionen im Netz darauf gab es praktisch keine.

Gezi ist gescheitert, aber nicht wegen der Regierung

Die Diskussionen zeigen auf schmerzhafte Weise, wie die Gezi-Bewegung, die seit 2013 eine Quelle der Hoffnung für Millionen von Menschen war, auf spektakuläre Weise an dem gescheitert ist, was sie zu versprechen schien: unterschiedliche politische Meinungen zusammenzubringen, deren Vertreterinnen und Vertreter sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner eines Lebens in Freiheit und Würde sowie den Respekt gegenüber der Umwelt einigen können.

Obwohl es in der Türkei eine dynamische und fortschrittliche Zivilgesellschaft gibt, könnte der Mangel an Empathie und Solidarität zwischen den Oppositionsgruppen das tatsächliche Problem des Landes sein. Angesichts der für 2023 angesetzten Wahlen und der Tatsache, dass Präsident Erdoğan in Meinungsumfragen die niedrigsten Beliebtheitswerte aller Zeiten einfährt, sollte die Opposition diese Chance ergreifen. Doch es gibt bereits ersten Risse zwischen den sechs Oppositionsparteien. Und selbst wenn Bündnisse geschlossen werden, ist der Populismus schwer zu besiegen: Der Sieg von Viktor Orban in Ungarn ist daran die jüngste Erinnerung. 

Im Falle der Türkei ist der Gezi-Prozess, der uns eigentlich vereinen sollte, leider zu einem weiteren Grund geworden, Mauern zu errichten. Und das verheißt nichts Gutes für die bevorstehenden Wahlen.