Regionalwahlen in der Türkei
Kampf um Istanbul: Entscheidungswahl für Erdogans Macht
Auch 2024 ist wieder Wahljahr in der Türkei. Am 31. März sind die Bürgerinnen und Bürger aufgerufen, die Bürgermeister in Großstädten und Gemeinden sowie ihre Stadträte zu wählen. Nachdem Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP-geführte Volksallianz in den Wahlen des Vorjahres auf nationaler Ebene ihre Macht sichern konnten, geht es nun vor allem um die Kontrolle der großen Städte.
Die letzten Regionalwahlen im Jahr 2019 hatten in einem großen Sieg der Opposition geendet. Elf Großstädte haben seither oppositionelle CHP-Bürgermeister, darunter die größten Metropolen Istanbul, Ankara und İzmir. Zumindest einige von ihnen durch AKP-Vertreter zu ersetzen, würde der 2023 bestätigten Regierung zusätzliche Legitimität verleihen und ihre Herrschaft bis zu den nächsten nationalen Wahlen im Jahr 2028 nachhaltig festigen. Nicht zuletzt geht es bei der Frage, wer die Großstädte regiert, stets auch um den Zugriff auf erhebliche Ressourcen.
Wahlen in der Türkei: Herausforderungen für die Opposition
Vier Stimmen haben die Wählerinnen und Wähler am 31. März. In den Großstadtmetropolen – das sind die 30 Städte mit mehr als 750.000 Einwohnern – werden die Oberbürgermeister und die Distriktbürgermeister gewählt, zudem die Stadträte der Distrikte, aus denen wiederum einige in den Stadtrat der Metropole entsandt werden. Außerdem stehen die Muhtars zur Wahl, die Vorsteher einer Mahalle, vergleichbar mit einem Berliner Kiez oder einem Kölner Veedel. Für diese Funktion kann sich jeder und jede zur Verfügung stellen, indem sie am Morgen des Wahltags selbst gedruckte Wahlzettel mit Namen und Gesicht ins Wahllokal der eigenen Mahalle bringen. Parteizugehörigkeiten spielen auf dieser Ebene keine Rolle. In allen kleineren Städten werden neben den Bürgermeistern die Stadträte auf Distrikt- und Stadtebene und ebenso die Muhtars gewählt.
Der Wahlkampf und die mediale Aufmerksamkeit richten sich allerdings ausschließlich auf die Bürgermeister, namentlich die der Großstadtmetropolen. Dabei ist die Frage, ob die Opposition ihre Erfolge von 2019 wiederholen kann und wer mit wem im Wahlkampf Allianzen eingeht, in jeder Stadt gesondert zu bewerten.
Gut sind die Voraussetzungen generell nicht. Die Siege von 2019 gelangen vor allem, da sich mehrere Oppositionskräfte zusammengeschlossen und in der Regel den CHP-Kandidaten gemeinsam unterstützt hatten, einschließlich der pro-kurdischen HDP-Anhänger. Von einer solchen Einigkeit ist die Opposition nach der Niederlage von 2023 weit entfernt. Entscheidend ist etwa, dass die İYİ-Partei („Gute Partei“) sich inzwischen strikt gegen die CHP gewandt hat und mit eigenen Kandidaten antritt.
Aussichtsreich sind diese nur in Einzelfällen, etwa in Nevşehir und Ordu, wo es sich bei den İYİ-Kandidaten um populäre Ex-AKP-Bürgermeister handelt. Ansonsten dürften sie eher der CHP Stimmen abziehen und somit den AKP-Kandidaten zum Sieg verhelfen. Generell ist das Potential der İYİ -Partei allerdings im letzten Jahr von 14 Prozent im März 2023 auf inzwischen etwa 5 Prozent geschrumpft; viele Funktionsträger und Gründungsmitglieder haben die Partei verlassen. Auch die DEM (Gleichheits- und Demokratiepartei der Völker), Nachfolgepartei der pro-kurdischen HDP, tritt weitgehend mit eigenen Kandidaten an, nachdem Verhandlungen zur städteweisen Kooperation mit der CHP offenbar an CHP-internem Widerstand gescheitert sind. Und schließlich ist die CHP als größte Oppositionspartei seit den 2023er-Wahlen selbst in einem desaströsen Zustand und innerlich zerrissen.
Wahlallianzen und Parteibrüche
Die AKP steht insofern komfortabler da, als sie zumindest in 29 Städten und 30 Provinzen gemeinsam mit ihrem Partner, der rechtsextremen MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) antritt. An anderen Orten konkurrieren beide Parteien jedoch. Sorge dürfte der AKP der jüngste Bruch mit der islamistischen YRP (Neue Wohlfahrtspartei) bereiten, die 2023 noch Erdoğan unterstützt hatte und mit fünf Abgeordneten in die Große Nationalversammlung eingezogen war. Die YRP ist, wenngleich noch sehr klein, die derzeit am stärksten wachsende Partei und tritt durchweg mit eigenen Kandidaten an. Sie zielt auf eine religiös-konservative Wählerschaft, die sich von der AKP abwenden, für die die säkulare Opposition aber keine Option ist. Damit könnte sie mittelfristig erfolgreicher sein als die islamistische Gelecek-Partei (Zukunfts-Partei) und die liberal-affine DEVA (Partei für Demokratie und Fortschritt), denen nach ihrer Abspaltung von der AKP kein ernsthafter Aufschwung gelungen ist. In einem Fall – in Şanliurfa – ist der YRP-Kandidat Mehmet Kasım Gulpinar so populär, dass er, wenn nicht gewinnen, doch einen Sieg des AKP-Kandidaten verhindern und der DEM zu einem Überraschungssieg verhelfen könnte.
Anders als 2019 treten in diesem März also an vielen Orten nicht zwei, sondern mehrere Kandidaten gegeneinander an. Da die Bürgermeister mit nur einfacher Mehrheit gewählt werden und es nicht zur Stichwahl kommt, ist der Ausgang schwer vorhersagbar. Neben der Frage, wer wem einen Teil der Stimmen abzieht, werden die Wahlergebnisse davon abhängen, inwieweit sich die Wählerinnen und Wähler überhaupt mobilisieren lassen. Gerade unter Unterstützern der Opposition herrscht seit den letzten Wahlen und dem Zerfall des Oppositionsbündnisses immer noch Enttäuschung und eine depressive Grundstimmung.
Die Musik spielt in Istanbul
Nicht nur die auf den Istanbuler Straßen umherfahrenden Kleinbusse, aus denen die Wahlkampflieder der Kandidaten schallen, legen nahe, dass die Musik in Istanbul spielt. Die größte Metropole des Landes bildet aus drei Gründen den Mittelpunkt der diesjährigen Regionalwahlen. Zum einen schlicht durch ihre Größe – die Stadt vereint etwa ein Fünftel der Einwohner und rund ein Drittel der Wirtschaftskraft der Türkei –, die auch mit entsprechenden Ressourcen etwa im Bausektor einhergeht. Zum anderen ist die Rückgewinnung Istanbuls ein persönliches Anliegen für Recep Tayyip Erdoğan. Nicht nur war er selbst in den 1990er Jahren hier Bürgermeister. Die Wahl des CHP-Mannes Ekrem İmamoğlu zum Bürgermeister 2019, die zunächst vom Hohen Wahlrat angefochten worden war und sich in der Wiederholung mit noch wesentlich breiterer Mehrheit manifestierte, musste der Präsident seinerzeit als peinliche Niederlage empfinden.
Diese auszumerzen, dürfte ihm ein wesentliches Anliegen sein. Es wird allgemein damit gerechnet, dass er persönlich in der letzten Märzwoche intensiven Wahlkampf in allen Teilen der Stadt machen wird. Und schließlich ist es die Personalie İmamoğlu selbst, die alle Aufmerksamkeit in diesen Tagen auf Istanbul zieht. Schafft es der durchaus populäre Bürgermeister wiedergewählt zu werden, sehen viele Beobachter und Experten ihn als den aussichtsreichsten Gegenkandidaten für die Präsidentschaftswahl 2028 und potentiell als den nächsten Präsidenten. Ob die gegen ihn anhängigen Untersuchungen oder das in höheren Instanzen zur Bestätigung liegende Gerichtsurteil dies durch einen politischen Bann verhindern können, ist schwer vorherzusagen. Unterliegt İmamoğlu jedoch in dieser Wahl, wird allgemein erwartet, dass einer dauerhaften Verfestigung von Erdoğans Macht nichts mehr entgegenzusetzen ist.
„Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“
Der AKP-Gegenkandidat Murat Kurum ist ein wenig charismatischer Technokrat, der von 2018 bis 2023 Umwelt- und Stadtentwicklungsminister war. Zuvor hatte er die Wohnungsbaubehörde TOKI geleitet. Einer seiner Schwachpunkte dürfte sein, dass unter seiner Ägide nicht erdbebensicher konstruierte Gebäude in einer Bauamnestie legalisiert wurden – Gebäude, die im Südosten der Türkei in vielen Fällen dem jüngsten Erdbeben nicht standhielten.
Die Kampagnenthemen von İmamoğlu und Kurum sind durchweg lokale Themen der Stadt – beide versprechen etwa das Voranbringen der Infrastruktur, die Ertüchtigung der Stadt für das erwartete große Erdbeben, die Förderung von Business, Jugend und Kultur. Doch dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eigentlich um eine Weichenstellung für die ganze Türkei geht. „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“ – dieser Ausspruch von Recep Tayyip Erdoğan ist tief im öffentlichen Bewusstsein verankert. In Umfragen oppositionsgeneigter Institute liegt İmamoğlu zwei Wochen vor der Wahl noch bis zu 7 Prozentpunkte vorn, in regierungsnahen Umfragen sieht es nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Die letzten Wahlkampftage werden entscheidend sein.
Vielleicht noch entscheidender könnte aber sein, wie die kleinen Mitbewerber abschneiden, denn die Bürgermeister werden mit einfacher Mehrheit in nur einem Wahlgang gewählt. Die DEM mit ihrer Kandidatin Meral Danış Beştaş dürfte vor allem İmamoğlu Stimmen abziehen. Dass sie jüngst in einem regierungsnahen Fernsehsender interviewt wurde, was Oppositionspolitikern üblicherweise versagt bleibt, zeigt das taktische Interesse der AKP an ihrem relativen Erfolg. Ausstrahlungskraft weit über die 11 Prozent kurdischer Wählerschaft hinaus dürfte sie allerdings kaum besitzen – anders als es vielleicht die Ehefrau des inhaftierten Ex-Parteiführers Selahattin Demirtas gehabt hätte, deren Kandidatur kurz im Gespräch war. Die İYİ-Partei schickt ihren Vizevorsitzenden und Parlamentsabgeordneten Buğra Kavuncu ins Rennen, der 2019 entscheidend an der erfolgreichen İmamoğlu-Kampagne mitgewirkt hatte. Gefährlich für die AKP könnte ein gutes Abschneiden der YRP werden, die mit Mehmet Altınöz antritt, dem Schwiegersohn von Parteigründer Necmettin Erbakan und ebenfalls Parlamentsmitglied.
Frei und unfair
Wie schon bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 ist wieder mit einer im Großen und Ganzen freien Wahl zu rechnen, die aber in hohem Maße unfair verläuft. Dafür sorgen allein die fast vollständige Monopolisierung der Medien und die Möglichkeit des Regierungslagers, sich im Wahlkampf staatliche Ressourcen zunutze zu machen. Auch ausgefeiltere Maßnahmen der Politbeeinflussung kommen zum Einsatz. So tritt in Balıkesir, wo die AKP in der vergangenen Wahl nur eine hauchdünne Mehrheit erzielte, ein Kellner mit dem identischen Namen des CHP-Kandidaten an – offenbar in der Hoffnung, dass einige Wähler ihren Stempel versehentlich beim „falschen“ Ahmet Akın setzen.
Besonders irritierend ist die deutlich geäußerte Ankündigung des Präsidenten, dass AKP-regierte Städte leichteren Zugang zu staatlichen Ressourcen haben könnten. Dies wird vor allem in der Erdbebenregion als Drohung verstanden, dass der Wiederaufbau bei einem Oppositionssieg noch langsamer vorangehen könnte als ohnehin schon. Bereits direkt nach dem Erdbeben sowie in der Phase des Wiederaufbaus gab es etwa im CHP-regierten Hatay die Wahrnehmung, dass AKP-regierten Gemeinden schneller und umfangreicher geholfen wurde. Der CHP-Bürgermeister von Hatay, Lütfü Savaş, steht allerdings auch selbst in der Kritik für seine schlechte Krisenbewältigung und löste mit seiner erneuten Kandidatur harsche Proteste aus. Die am schlimmsten vom Erdbeben betroffene Region könnte daher tatsächlich in die Hände der AKP übergehen.
Mögliche Konsequenzen
Die Konsequenzen der Wahl werden sich zunächst konkret aus dem Wahlergebnis ergeben und darin liegen, dass ein Teil der jetzt CHP-regierten Großstädte künftig AKP-geführt sein wird. Dies erscheint möglich etwa in Balıkesir, Eskişehir, Antalya und Hatay. Ankara und İzmir dürften absehbar in CHP-Hand bleiben. Die DEM hat ihre Hochburgen im kurdisch dominierten Südosten des Landes und wird dort wieder erfolgreich sein. Für sie stellt sich die Frage, ob ihre gewählten Bürgermeister ihr Amt auch ausüben dürfen oder wie nach 2019 kurzerhand durch staatlich bestellte Beamte ersetzt werden.
Konsequenzen werden sich auch für Parteien ergeben, die nicht den gewünschten Erfolg erzielen. So steht die İYİ-Vorsitzende Merak Akşener bereits unter Druck, und auch der relativ neue CHP-Vorsitzende Özgür Özel muss sich mit Erfolgen beweisen, um sich langfristig zu etablieren.
Folgenreich wäre ein weitreichender Sieg der AKP jedoch nicht nur auf lokaler Ebene. Er würde den Weg frei machen für eine endgültige Verhärtung des Autoritarismus in der Türkei und könnte das Ende der noch vorhandenen Reste demokratischer Spielregeln einläuten. Zwar hat der Präsident jüngst angekündigt, dies wäre „seine letzte Wahl“, da ihm die verfassungsrechtliche Lage keine weitere Amtszeit erlaube. Doch rechnet man allgemein damit, dass er versuchen könnte, Mehrheiten für eine Verfassungsänderung oder aber eine vorgezogene Neuwahl zu organisieren, um ein Weiterregieren möglich zu machen. Sollte Murat Kurum in Istanbul gewinnen, darf dies als wahrscheinlich gelten.