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Türkei
Qual der Wahl: Energiewende oder Energiesicherheit?

Solarenergie Türkei
© picture alliance / AA | Omer Evren Atalay  

Kaum ein Land im mediterranen Raum spürt die Auswirkungen der globalen Erwärmung so massiv wie die Türkei. Sichtbar wurde dies zuletzt im Sommer 2021, als an der Mittelmeerküste verheerende Waldbrände wüteten und zugleich im Norden des Landes Überschwemmungen zahlreiche Ortschaften zerstörten. Über 100 Menschen starben. Zwar ist das Thema derzeit weitgehend aus den Medien verschwunden, doch sind klimabedingte Extremwetterereignisse auch für die kommenden Sommer wahrscheinlich. Hinzu kommt eine zunehmende Trockenheit, die die Türkei bis Mitte des Jahrhunderts zu einem „Wassermangelland“ machen dürfte. All dies wird sich mittelfristig auf die Lebensbedingungen, insbesondere die Trinkwasserversorgung und die Landwirtschaft auswirken.

Eine Energiewende ist notwendig, um aus wohlverstandenem Eigeninteresse das international vereinbarte Zwei-Grad-Ziel (Begrenzung der Erderwärmung auf höchstens zwei Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter) zu erreichen. Dies hat im Prinzip auch die türkische Politik längst verinnerlicht. Dass die Türkei als letzter G20-Staat erst im Oktober 2021 das Pariser Klimaabkommen ratifiziert hat, ist weniger auf grundsätzliche als vielmehr auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführen: Über Jahre hatte sie dagegen opponiert, in den Anhängen des Abkommens als „entwickeltes Land“ eingestuft zu werden und somit keinen Anspruch auf Finanzhilfen zur Umsetzung zu erhalten.

Von dieser diplomatischen Verzögerung unberührt hat sich in den vergangenen Jahren bereits viel getan, um die Selbstverpflichtungen der Türkei – Senkung der CO2-Emissionen bis 2030 um 21 Prozent und CO2-Neutralität bis 2053 – zu erreichen. Insbesondere hat der Ausbau der erneuerbaren Energien Fahrt aufgenommen. So stieg die Gesamtleistung der Erneuerbaren vom Beginn ihres Ausbaus im Jahr 2009 bis 2021 um mehr als das Dreifache auf 50 GW. Die Stromerzeugung speiste sich 2021 bereits zu 46 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen – 2018 waren es nach offiziellen Angaben noch 32,5 Prozent gewesen. Den größten Anteil haben Wasserkraftwerke. Doch steigt auch die Nutzung von Sonne, Wind und Geothermie erheblich. Die weitgehende Privatisierung und Liberalisierung des Strommarktes ab Mitte der 2000er Jahre, kombiniert mit staatlichen Abnahmegarantien für Ökostrom über einen begrenzten Zeitraum, stimulierten Investitionen. Etwa 16 Milliarden US-Dollar wurden in den letzten fünf Jahren in den Ausbau erneuerbarer Energien investiert. Experten bescheinigen der Türkei ein erhebliches Wachstumspotential in diesem Bereich. Sie könnte etwa beim Export von Ausrüstungen für Solar- und Windkraftanlagen, aber auch im Bereich Geothermie führend in der Region werden. Klimapolitisch zeigen diese Bemühungen bereits Erfolg: War der CO2-Ausstoß der Türkei bis 2017 noch beständig angestiegen, zeichnet sich seitdem ein Abwärtstrend ab.

Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass neben der Bekämpfung des Klimawandels – und dem willkommenen Nebeneffekt eines boomenden Wirtschaftszweigs – noch eine ganz andere Motivation hinter der türkischen Energiewende steckt und diese teilweise sogar konterkariert: Das Land hat durch Bevölkerungs- und Industrie-Wachstum einen rasant steigenden Energiebedarf, den höchsten unter den OECD-Ländern. Zur Deckung dieses Bedarfs ist es in hohem Maße von Erdgasimporten abhängig. In den ersten neun Monaten des Jahres 2020 wurden nach Daten der staatlichen Industrieentwicklungsbank der Türkei (TSKB) etwa 43,887 GWh aus Erdgas produziert, im Vergleichszeitraum 2021 war es fast das Doppelte. Der beachtliche Ausbau im Bereich Erneuerbare führt also mitnichten automatisch zu einer sinkenden Nutzung fossiler Brennstoffe. Erst am 20. Januar 2022 demonstrierte ein aus technischen Gründen verhängter zehntägiger Gas-Lieferstopp aus dem Iran, wie verletzlich das Land aufgrund der Importabhängigkeit ist. Energieintensive Industrieunternehmen mussten ihre Entnahme reduzieren und den Lieferstopp mit Produktionseinbußen bezahlen.

Die Abhängigkeit von Gasimporten und der Wunsch, sie zu reduzieren, schlägt sich entsprechend im 11. Nationalen Entwicklungsplan 2019-2023 nieder, der als Hauptziel im Bereich Energie die „Sicherung der ununterbrochenen, qualitativ hochwertigen, nachhaltigen, verlässlichen und erschwinglichen Energieversorgung“ definiert. Ein starker Fokus der Strategie liegt auf dem Aufbau von Kernenergiekapazitäten – der erste Reaktor des AKW Akkuyu soll 2023 ans Netz gehen, zwei weitere AKW sind geplant – sowie auf der Erschließung eigener fossiler Brennstoffvorkommen. Allein seit 2020 ist die Entdeckung und bevorstehende Erschließung von drei eigenen Gasfeldern annonciert worden. Wenngleich also die erneuerbaren Energien weiter ausgebaut und zusätzliche Maßnahmen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes ergriffen werden sollen, lässt sich kaum von einer klimaschutzgeleiteten Energiestrategie sprechen. Denn zugleich steigt der Energiebedarf insgesamt und ebenso die Nutzung fossiler Brennstoffe.

Ein ernsthafter Kampf gegen den Klimawandel müsste neben Energiefragen dringend auch die Wasserproblematik adressieren. Gerade in den letzten zwei Jahren ist der zunehmende Wassermangel deutlich hervorgetreten: Natürliche Seen drohen auszutrocknen und etliche Stauseen weisen bereits fallende Wasserstände auf, was vor allem die 16-Millionen-Stadt Istanbul zu spüren bekommt. Prof. Doğanay Tolunay von der Forstwissenschaftlichen Fakultät der Istanbul-Universität sieht als Ursache des Wassermangels nicht nur den Klimawandel selbst, sondern auch eine verfehlte Agrar- und Bewässerungspolitik. Doch auch die massive Nutzung von Wasser als Energiequelle – immer noch die stärkste der erneuerbaren Energiequellen in der Türkei – trägt zur Austrocknung bei. Die Effekte werden sich nicht nur in der Nahrungsmittelversorgung bemerkbar machen, sondern ihrerseits auf die Energieversorgung zurückwirken. 

So sehr die Türkei beim Ausbau von Wind-, Solarenergie und Erdwärme voranschreitet, so sicher wird – auch unabhängig politischer Weichenstellungen in Ankara – auf absehbare Zeit das Motiv des Klimaschutzes mit anderen Motiven und Zwängen konkurrieren.

 

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