Türkei
„Trotz allem“ – Lagebericht 2021 der LGBTI-Community in der Türkei
Die türkische LGBTI-Community stand auch 2021 unter Druck. Spätestens seit dem Verbot der jährlichen Pride-Parade in Istanbul 2015 wird es der LGBTI-Gemeinschaft in der Türkei zusehends schwerer gemacht, für ihre Rechte und Gleichstellung einzutreten. So wurden 2018 in Ankara zeitweise alle LGBTI-bezogenen Veranstaltungen verboten. 2020 wurde ein Verbot des Verkaufs von Regenbogenflaggen und anderen Pride-Artikeln an unter 18-jährige diskutiert, weil diese Kinder und Jugendliche in ihrer geistigen, moralischen und sozialen Entwicklung negativ beeinflussen würden. Im Zusammenhang mit den Protesten an der Boğaziçi-Universität im vergangenen Jahr diffamierte Innenminister Süleyman die LGBTI-Community Soylu auf einer Pressekonferenz und stellte gar deren Existenz infrage. Den bisherigen Tiefpunkt bildete schließlich der Ausstieg aus der Istanbul-Konvention am 1. Juli 2021 erreicht mit der Begründung, die Konvention werde von einem Teil der Bevölkerung manipuliert mit dem Ziel, Homosexualität zu normalisieren, und dies sei mit den sozialen und familiären Werten der Türkei nicht vereinbar.
Der von Kaos GL (The Kaos Gay and Lesbian Cultural Research and Solidarity Association) seit 2007 jährlich herausgegebene Menschenrechtsbericht ist der umfassendste seiner Art in der Türkei. Er wertet eine eigens dafür angelegte Datenbank aus, die türkeiweit gemeldete Rechtsverletzungen gegen LGBTI-Personen erfasst und reichert diese mit Interviewauszügen von Betroffenen an. Da jedoch nur ein Bruchteil der Vorfälle an die Öffentlichkeit oder gar zur Anzeige gelangt, kann das Ausmaß der Rechtsverletzungen bestenfalls erahnt werden.
Laut dem Bericht kam es 2021 zu mindestens acht Hassverbrechen. Bei fast 30 Prozent aller Verstöße handelte es sich um die Verletzung der Meinungsfreiheit, ein Anstieg um das Dreifache im Vergleich zum Vorjahr. Darauf folgen Verletzungen der persönlichen Integrität mit 11,8 Prozent, Verletzungen des Rechts auf Freiheit und Sicherheit mit 9,2 Prozent, Folter und Misshandlung mit 7,2 Prozent und Verletzungen des Rechts auf Arbeit und des Rechts auf Leben mit 5,2 Prozent. Was die geografische Verteilung der Rechtsverletzungen in der Türkei angeht, gibt Kerem Dikmen, Autor des Menschrechtsberichts 2021, an: „Wenn Sie bedenken, dass 90 Prozent der Daten, auf die wir zugreifen können, Daten von Menschenrechtsverletzungen in Metropolen sind, können Sie erraten, mit wie vielen Rechtsverletzungen LGBTI-Personen konfrontiert sind, insbesondere in ländlichen Gebieten.“
Vor allem die strikten staatlichen Eingriffe in das Versammlungs- und Demonstrationsrecht führten zu heftigen Verletzungen des Rechts auf Freiheit und Sicherheit. Während der Demonstrationen am 8. März (Weltfrauentag) oder der Proteste gegen den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention wurden Hunderte von LGBTI-Personen ihrer Freiheit beraubt und gewaltsam festgehalten. Dabei hat die Polizei mehrfach gegen das Folter- und Misshandlungsverbot verstoßen. Zwar haben sich die Verstöße teilweise während der pandemiebedingten Ausgangssperren zugetragen. Öffentliche Institutionen und die Anhänger der regierenden Koalitionsparteien konnten sich jedoch weiterhin von der Polizei beschützt zu Massenveranstaltungen zusammenfinden.
Laut Kerem Dikmen waren systematische Rechtsverletzungen 2021 häufiger als in den Vorjahren. Während sich der Staat bislang darauf konzentriert habe, Menschen an der Ausübung bestehender Rechte zu hindern, ging er 2021 dazu über, in bestehende Rechtssprechung einzugreifen. Der Versuch, Transgender-Personen bei den Demonstrationen des 8. März auszuschließen, Regenbogen- und Transgender-Flaggen als strafrechtliche Beweise heranzuziehen und der Ausstieg aus international gültigen Menschenrechtsvereinbarungen offenbarten den systematischen Ansatz des Staates.
Somit sind die Aussichten auf Besserung auch 2022 verhalten. Doch trotz aller Arten von Unterdrückung, Misshandlung und kollektiver Bestrafung machte die LGBTI-Community auch 2021 intensiv Gebrauch von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit und stellte ungeachtet des massiven Drucks einen bedeutenden Pfeiler der türkischen Zivilgesellschaft dar.