Türkei
Zufluchtsort Türkei
Wahrscheinlich hat bei Ausbruch des Krieges in Syrien kaum jemand in der Türkei erwartet, dass dieser auch elf Jahre später immer noch anhält und die Türkei mit 3,6 Millionen die höchste Anzahl an Geflüchteten weltweit aufnehmen würde. Seitdem hat sich nicht nur die anfängliche Politik der „offenen Tür“ für syrische Schutzsuchende, sondern auch die allgemeine Stimmung im Land stark geändert. Dies liegt jedoch nicht nur an der großen Anzahl von Syrerinnen und Syrern, sondern auch an der sich kontinuierlich verschlechternden wirtschaftlichen Lage im Land sowie an der seit Jahren steigenden Zuwanderung aus anderen Ländern, insbesondere Afghanistan.
Auch wenn Begriffe wie Schutzsuchende, Geflüchtete oder Zugewanderte im Alltag oft austauschbar gebraucht werden, leben die Menschen in der Türkei unter verschiedenen Titeln und Lebensrealitäten. Die meisten Syrerinnen und Syrer haben „vorübergehenden Schutz“ erhalten. Dieser Status wurde eigens für sie geschaffen, da die Türkei zwar die Genfer Flüchtlingsschutzkonvention unterschrieben hat, jedoch unter dem Vorbehalt, nur Antragsstellenden aus Europa Asyl zu gewähren. „Vorübergehender Schutz“ bedeutet demnach Schutz vor Abschiebung und den Zugang zu staatlichen Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheitswesen und sozialen Diensten. Damit stehen den Menschen im Wesentlichen dieselben Rechte zu, wie sie die Genfer Flüchtlingskonvention gewährt. Die Realität sieht jedoch oft anders aus. So bleibt Geflüchteten, obwohl sie eigentlich seit 2016 einer legalen Arbeit nachgehen können, de facto der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt. Nach zehn Jahren besitzen nur knapp 140.000 der rund 2,2 Millionen Syrerinnen und Syrer im arbeitsfähigen Alter eine Arbeitsgenehmigung. Der Rest arbeitet entweder schwarz oder gar nicht. Das liegt zum Teil an den sozialen und örtlichen Bedingungen, an bürokratischen Hürden, aber auch daran, dass die staatlichen Unterstützungsgelder für die ganze Familie wegfallen, sobald ein Familienmitglied einer geregelten Tätigkeit nachgeht.
Laut Daten der türkischen Nichtregierungsorganisation Refugees Association leben in der Türkei 98,6 Prozent der Syrerinnen und Syrer außerhalb von Flüchtlingslagern. Alleine in den Städten Istanbul, Gaziantep, Hatay und Şanlıurfa sind es jeweils knapp 500.000, die meist in ärmeren Vierteln leben. Die größte Herausforderung bleibt dabei die Verfügbarkeit von Ressourcen und Dienstleistungen wie Bildung, Wohnraum und Beschäftigung, besonders in Städten, die bereits zuvor mit Strukturhindernissen konfrontiert waren. Trotz allem gehen aufgrund der erheblichen Anstrengungen des türkischen Staates ca. 800.000 syrische Kinder an türkische Schulen. Die Daten zeigen jedoch auch, dass es ein großes Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Schulstufen gibt. Während noch über 80 Prozent der entsprechenden Altersstufe in Grundschulen gehen, fällt diese Zahl auf unter 75 Prozent in der Sekundarstufe und auf knapp 40 Prozent in der Oberstufe. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich Familien die Schulbildung ihrer Kinder nicht leisten können bzw. dass zum Teil auch Kinder und Jugendliche arbeiten gehen müssen, um die Familie zu ernähren.
Das Fehlen einer langfristigen Perspektive beim „vorübergehenden“ Schutz-Status bildet ein weiteres Hindernis bei der Integration, denn im Gegensatz zur Genfer Konvention haben die syrischen Geflüchteten auch nach Jahren kaum eine Aussicht auf ein langfristiges Aufenthaltsrecht. Die Regierung kann den „vorübergehenden Schutz“ jederzeit aufheben und der gesetzliche Weg zur Einbürgerung ist erschwert. Seit 2011 erhielten lediglich 190.000 – oftmals besonders gebildete und engagierte – Syrerinnen und Syrer die türkische Staatsbürgerschaft.
Jenseits der syrischen Bevölkerung kommen vor allem Menschen aus Afghanistan, Iran und dem Irak als Schutzsuchende in die Türkei. Sie können „internationalen Schutz“ beantragen und so einen „bedingten Schutzstatus“ oder „subsidiären Schutz“ erhalten. Beide stellen keine langfristigen legalen Zukunftsperspektiven dar, da sie ausschließlich Übergangslösungen bis zu einer möglichen Umsiedlung in ein anderes Land sind. Dabei unterscheidet sich die Situation von Menschen mit afghanischer stark von der mit syrischer Herkunft. Schon seit den 1970er Jahren suchen Afghaninnen und Afghanen in verschiedenen Ländern Zuflucht, insbesondere in Ländern wie Pakistan, Iran und der Türkei. Nach Angaben des Flüchtlingswerks UNHCR sind knapp 130.000 von ihnen in der Türkei registriert. Die türkische Regierung geht darüber hinaus von ca. 500.000 aus, die sich illegal im Land aufhalten, vor allem in der Region Istanbul, in den zentralanatolischen Provinzen, einigen Schwarzmeerprovinzen und Van als wichtigster Grenzstadt zum Iran. Die Realität bedeutet für viele Armut, Ausbeutung und ein Leben unter dem Radar, da eine Registrierung nicht aussichtsreich ist. Schaffen sie es doch, bekommen sie in den meisten Fällen nur eine Aufenthaltsgenehmigung. Legal arbeiten dürfen sie nicht, weshalb sowohl sie als auch Migranten und Migrantinnen aus anderen Ländern häufig illegal und unter prekären Bedingungen im großen informellen Sektor arbeiten. Auch die griechische Einstufung der Türkei als „sicheres Drittland“ für Asylsuchende aus Syrien, Afghanistan, Bangladesch, Pakistan und Somalia zwingt viele, trotz der prekären Bedingungen in der Türkei zu bleiben, da ihnen ohne ausreichende Beweise einer individuellen Bedrohungssituation der Zugang zum einem Asylverfahren in Griechenland und somit der EU verwehrt bleibt.
Genau wie die EU versucht die Türkei schon seit Jahren, mit Grenzmauern, Drohnen und Wärmebildkameras ihre Grenzen zu den Nachbarländern – besonders Syrien, Iran und dem Irak – besser zu sichern. Geflüchtete, die in den Grenzregionen zum Iran vom türkischen Militär gefasst werden, werden laut Berichten von Human Rights Watch oft gewaltsam in den Iran zurückgedrängt, ohne ihnen das Recht auf einen Asylantrag zu gewähren. Auch in Städten gehen türkische Behörden verstärkt gegen illegal Zugewanderte vor. Angaben der Generaldirektion für Migrationsverwaltung zufolge wurden alleine bis Juni dieses Jahres ca. 74.000 Menschen ohne gültige Papiere in Gewahrsam genommen und bereits 28.000 abgeschoben. Dabei verstößt die Türkei laut Amnesty International kontinuierlich durch erzwungene „freiwillige“ Ausreisen gegen den völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung. Aussagen zufolge wurden Syrerinnen und Syrer, die sich außerhalb der ihnen zugewiesenen Provinz aufhielten, festgenommen und gezwungen, eine Erklärung zur „freiwilligen Ausreise“ zu unterzeichnen.
Damit reagiert die Regierung auch auf die fremdenfeindliche Stimmung in der türkischen Bevölkerung, die durch die wirtschaftliche Krisenlage derzeit spürbar zunimmt. Einem UNHCR-Bericht vom März 2022 zufolge wollen 80 Prozent der türkischen Bevölkerung, dass die syrischen Geflüchteten und illegal Zugewanderte wieder zurückgeschickt werden. 67 Prozent der Befragten einer Metropoll-Umfrage vom August 2021 sprachen sich dafür aus, die türkischen Grenzen für alle Schutzsuchenden zu schließen. Ein Jahr vor den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen hat sich auch die Politik das Thema zu eigen gemacht. Dabei wird die türkische Bevölkerung irgendwann einsehen müssen, dass ein Großteil der Menschen dauerhaft in der Türkei bleiben wird. Zum einen, da die meisten der eine Million syrischen Kinder zwischen null und zehn Jahren Syrien gar nicht kennt; zum anderen, da ein Großteil der syrischen Bevölkerung keine andere Wahl hat, als in der Türkei zu bleiben. Laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), kam es 2019 für kaum jemanden mehr in Betracht, nach Syrien zurückzukehren. Nicht zuletzt sind die Arbeitskräfte, ihr Know-how und ihre Kaufkraft eigentlich Aspekte, auf die die Türkei nur schlecht verzichten kann. Die Frage bleibt also: Gelingt der Türkei eine langfristige Integrationspolitik, in der sie die Potentiale insbesondere der aus Syrien zugewanderten Menschen nutzt, oder wird sie auf groß angelegte Rückführung setzen? Dass letzteres überhaupt realisierbar wäre, darf getrost bezweifelt werden.