Überwachungsbefugnisse
Wie viel Überwachung wollen wir uns leisten?

Die diskutierten neuen Überwachungsbefugnisse für Sicherheitsbehörden sind aus liberaler Sicht besorgniserregend
Überachungskameras

Die deutschen Sicherheitsbehörden sollen mit neuen Überwachungsbefugnissen ausgestattet werden.

© picture alliance / Caro | Hechtenberg

Das ideale Verhältnis zwischen individueller Freiheit und staatlich gewährleisteter Sicherheit ist aufgrund der dunkelsten Episoden der deutschen Geschichte seit Langem ein politischer Streitpunkt. In den vergangenen Wochen nahm diese Debatte wieder einmal Fahrt auf. Die Anlässe waren aus liberaler Sicht besorgniserregend: Die EU-Kommission wollte eine Chatkontrolle einführen, die Technologieplattformen verpflichtet hätte, ihre verschlüsselten Kommunikationskanäle mithilfe von Software zu durchsuchen. Vor allem Bundesjustizminister Buschmann ist es zu verdanken, dass das Gesetz vorläufig verworfen wurde.

Währenddessen arbeitet ein EU-Gremium an einem neuen Entwurf zur Vorratsdatenspeicherung, deren Fesseln der Europäische Gerichtshof in einem Urteil zuletzt wieder lockerte. Das Bundesinnenministerium unter Nancy Faeser forderte im Frühjahr erneut die anlasslose Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen – obwohl es kurz zuvor eine Vereinbarung mit Justizminister Buschmann über die Einführung des Quick-Freeze-Verfahrens als grundrechtskonformer Alternative gab. Statt die Bevölkerung massenhaft zu überwachen, können Behörden bei diesem Vorgehen relevante Verkehrsdaten von den Providern bei begründetem Verdacht einfrieren lassen.

Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger drohen zweitrangig zu werden

Schließlich setzte Faeser jüngst dem Ganzen die Krone auf, indem sie die Befugnisse des Bundeskriminalamts ausweiten und diesem unter anderem heimliche Wohnungsdurchsuchungen ermöglichen möchte, um Online-Durchsuchungen durchzuführen und eine Telekommunikationsüberwachung zu installieren.

Allen drei Fällen – Chatkontrolle, Vorratsdatenspeicherung, heimliche Wohnungsdurchsuchungen – liegt die Annahme zugrunde, dass die polizeilichen Überwachungsbefugnisse erweitert werden müssten, um schwere Kriminalität effektiv bekämpfen und Gefahren durch Terrorismus abwenden zu können. Im ewigen politischen Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit drohen die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger zweitrangig zu werden.

Dass dies eine politisch gewollte Entwicklung ist, die sich durch die Realität kaum rechtfertigen lässt, zeigen die Statistiken. Die Anzahl der polizeilich erfassten Morde und Mordversuche in Deutschland ist seit Jahren auf einem niedrigen Niveau. Im vergangenen Jahr waren es 214, von denen die Polizei 96 Prozent aufklären konnte, sowie weitere 490 Mordversuche. Im Bereich des Terrorismus ist die Zahl der verübten, gescheiterten und geplanten Anschläge EU-weit von 249 im Jahr 2010 auf 15 im Jahr 2021 gesunken. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist vor allem bei islamistisch motivierten Anschlägen und Anschlagsplänen innerhalb der EU-Staaten eine Trendwende zu beobachten. Deren Zahl steigt an, insbesondere im Bereich der Messerangriffe.

Seit dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz sind in Deutschland etwa dreißig Menschen bei Terroranschlägen ermordet worden, rund die Hälfte von ihnen in Hanau und bei den Zeugen Jehovas in Hamburg. Jedes dieser Opfer ist eines zu viel. Aber sie rechtfertigen nicht die Einführung von Überwachungsmethoden, deren Wirksamkeit umstritten und deren Verfassungskonformität mindestens fragwürdig ist.

Faeser sollte Sicherheitsbehörden reformieren und stärken

Innenministerin Faeser hätte mehr schlagkräftige Argumente auf ihrer Seite, hätten die Sicherheitsbehörden mit erweiterten Befugnissen diese Anschläge tatsächlich verhindern können. Doch sowohl bei den Attentaten vom Breitscheidplatz und von Hanau als auch bei anderen Anschlägen wie denen des NSU oder dem Mord an Walter Lübcke waren nicht mangelnde Befugnisse, sondern ein teils deutliches Versagen der Sicherheitsbehörden Grund dafür, dass diese nicht verhindert wurden. Oft waren die Täter der Polizei oder dem Verfassungsschutz bereits zuvor bekannt, die vorhandenen Informationen wurden jedoch falsch eingeschätzt, nicht an die relevanten Stellen weitergeleitet oder fahrlässig missachtet. Es hätte ausgereicht, diese Hinweise wahrzunehmen, ernst zu nehmen und entsprechend koordiniert zu handeln, um Menschenleben zu schützen.

Statt also immer wieder schwerwiegende Grundrechtseingriffe wie Chatkontrollen oder heimliche Wohnungsdurchsuchungen als Heilsbringer der Kriminalitätsbekämpfung zu propagieren, sollte die Innenministerin die Sicherheitsbehörden finanziell und personell so aufstellen und ausrüsten, dass sie ihrer Arbeit effektiv nachgehen können. Es braucht eine umfassende Reform der ineffizienten deutschen Sicherheitsarchitektur, um die Kooperation und Kommunikation zwischen den Behörden zu verbessern. Sie ist seit Jahren überfällig. Höhere Investitionen in die Präventionsarbeit, der Ausbau von Deradikalisierungsprogrammen und die Entwaffnung von Gefährdern durch gut geschulte Waffenbehörden wirken Gewalt präventiv entgegen.

Selbstverständlich müssen Sicherheitsbehörden auch technisch adäquat und mit den notwendigen Befugnissen ausgestattet sein, um nicht hilflos dabei zuzusehen, wenn hierzulande schwere Gewaltverbrechen verübt werden. Doch zum einen sind wir von Zuständen, in denen Polizei und Verfassungsschutz dem Verbrechen mit leeren Händen gegenüberstehen weit entfernt. Und zum anderen muss bei behördlicher Überwachung immer der Grundsatz gelten: So viel Freiheit wie möglich, so wenig Grundrechtsverletzung wie nötig. Das Bundesverfassungsgericht hat den Bundesregierungen in der Vergangenheit zu ausladende Überwachungsmethoden regelmäßig um die Ohren gehauen. Das zeigt zwar, dass unsere demokratische Gewaltenteilung funktioniert – das Vertrauen der Bevölkerung in den Gesetzgeber stärkt es aber nicht. Doch mehr Vertrauen der Menschen können die Bundesregierung und Nancy Faeser aktuell gut gebrauchen.

 

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D. und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.