USA - Ukraine
Zeitenwende

Die Anschuldigungen Donald Trumps gegen Wolodymyr Selenskyj haben ein neues Niveau erreicht.
© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Ukraine PresidencyEs ist eine Zeitenwende. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Vereinigten Staaten der Rückhalt der Freiheit. Europa konnte sich auf den Schutzschirm Amerikas verlassen, und zwar sowohl im Kalten Krieg als auch danach. Zuletzt waren die USA die mit Abstand größte Stütze der Ukraine in ihrem Kampf gegen die russische Aggression. Mit Donald Trumps jüngstem Telefonat mit Wladimir Putin und seinen darauf folgenden Äußerungen über Wolodymyr Selenskyj und die Ukraine ist dies Geschichte.
Die Tragweite von Trumps Äußerungen kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Gegenüber Putin räumte er von vornherein – und völlig ohne Grund – zentrale Positionen für die anstehenden Verhandlungen. Er schwächte damit geradezu gezielt die westliche Verhandlungsposition, eine Art Verrat. Einziges naheliegendes Motiv dafür ist ein pathologischer Wunsch, schnell zu Ergebnissen zu gelangen und als erfolgreicher „Broker“ eines Friedens dazustehen – koste es, was es wolle. Dabei stört Selenskyj nur, und Trumps persönliche Ausfälle gegen ihn und sein Land sind Versuche, ihn schnellstmöglich aus dem Weg zu räumen. Trumps Vorwurf, die Ukraine hätte ein Ende des Krieges verhindert bzw. sogar den Krieg begonnen, ist eine Ungeheuerlichkeit.

Verrat an der Freiheit.
© picture alliance / ZB | ERZ-Foto/Georg Ulrich DostmannFür Europa ist das Ganze mehr als ein Weckruf. Dieser amerikanische Präsident ist bereit, praktisch alles an Freiheit der anderen zu opfern, nur um einen „Deal“ zu erreichen. Er ist kein verantwortungsvoller Politiker, sondern ein ruchloser Geschäftsmann. Auch die transatlantische Beistandsverpflichtung der USA gegenüber Europa im Rahmen der NATO steht damit fortan auf tönernen Füßen. Dafür trägt Europa ein gehöriges Maß an eigener Schuld, denn die ständige Ermahnung der Amerikaner auch schon in der Ära vor Trump an fast alle europäischen NATO-Mitglieder, ihren nationalen Verteidigungsbeitrag zu erhöhen, wurde geflissentlich überhört – jedenfalls bis zu Russlands Einmarsch in der Ukraine vor drei Jahren. Dafür erhält Europa jetzt die Quittung.
Die Konsequenz lautet: Europa muss aufrüsten, und zwar drastisch. Zielgröße muss es sein, mindestens 3 bis 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also etwa so viel wie die USA selbst, jährlich in die Verteidigung zu investieren, in Deutschland also derzeit etwa 150 Milliarden Euro. Machen alle europäischen NATO-Länder (einschließlich Großbritannien) diesen Schritt, könnte der gesamte Verteidigungsetat NATO-Europas irgendwo zwischen 750 und 1.000 Milliarden Euro liegen, also etwa in der Größenordnung des US-amerikanischen und um ein Vielfaches höher als der russische. Bedenkt man, dass die europäische Militärtechnologie im globalen Maßstab keineswegs rückständig ist, wäre damit wahrscheinlich ein Zustand der „nachhaltigen Abschreckung“ gegenüber potenziellen Aggressoren erreicht. Dies gilt umso mehr, als im Falle einer solchen Entwicklung bei kluger strukturpolitischer Begleitung enorme marktwirtschaftliche Vorteile der Spezialisierung in der Waffenproduktion zu erreichen wären. Denn von einem gemeinsamen europäischen Markt der Rüstungsindustrie ist Europa, also die Europäische Union plus Großbritannien, Norwegen und die Schweiz, noch weit entfernt. Vielleicht könnten dadurch sogar beachtliche Einsparungen und Qualitätssprünge erzielt werden – bis hin zur Frage der nuklearen Bewaffnung.
Geschähe dies, wäre es eine Zeitenwende mit tief greifenden politischen Konsequenzen. Dies gilt sowohl für die Finanzierung als auch für die Rekrutierung von soldatischem Nachwuchs – in einem Umfeld der demografischen Schrumpfung. Klar ist dabei schon heute zweierlei: Ohne die Rückkehr zu kräftigem volkswirtschaftlichem Wachstum würde die Aufrüstung zu einem enorm starken Verteilungskampf führen – grob gesprochen zwischen sozialen sowie ökologischen Zwecken auf der einen und militärischen Zwecken auf der anderen Seite. Eine offensive Wachstumspolitik ist deshalb zwingend. Genauso zwingend ist allerdings in Deutschland eine Reform des Sozialstaats – hin zu maximaler Erwerbsbeteiligung der Bevölkerung sowie Treffsicherheit der Systeme der sozialen Sicherheit, die den Staat massiv entlastet.
In beiderlei Hinsicht muss in Deutschland die nächste Bundesregierung liefern. Ab dem Haushalt 2026 müssen die Weichen so gestellt werden, dass die verteidigungspolitischen Zielgrößen in einem Fünf- bis Zehnjahreszeitraum Schritt für Schritt erreicht werden. Dies ist das größte Reformprojekt dieses Landes seit den späten vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts.