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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Wahlrechtsreform der Ampel
Die Rückkehr der Vernunft

Das Bundesverfassungsgericht hat klug entschieden. Überhang- und Ausgleichsmandate gehören nun wohl der Vergangenheit an. Gut so!
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts,(l-r), Holger Wöckel, Thomas Offenloch, Christine Langenfeld, Astrid Wallrabenstein, Doris König (Vorsitzende), Ulrich Maidowski, Rhona Fetzer und Peter Frank, verkündet das Urteil über die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verkündet das Urteil über die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition.

© picture alliance/dpa | Uli Deck

Wir Deutsche haben einen Hang zum Perfektionismus. Diesem ist es wohl auch zu verdanken, dass unser Wahlsystem in höchst origineller Weise Elemente von Mehrheits- und Verhältniswahlrecht kombiniert hat. Damals, als es eingeführt wurde, war dies weltweit noch etwas ganz Besonderes. Inzwischen ist das „deutsche System“ längst kein Unikat mehr, weil es einige Länder in seinen Grundprinzipien kopiert haben – so gut ist es.

Allerdings hatte es bisher einen unbeachteten Nachteil. Der wurde erst deutlich sichtbar, als die Anzahl der Parteien im Deutschen Bundestag von vier auf sieben zunahm – im Zuge der Auffächerung des politischen Meinungsspektrums, das wir in vielen hochentwickelten Industrieländern beobachten. In Deutschland überlebte nur eine „Volkspartei“, die Union, mit allerdings nur noch rund +/-30 Prozent der Stimmen. Wegen des weiten Abstands zur nächststärksten Partei gewann sie zunehmend Direktmandate, die nicht durch ihre proportionale Stärke über die Landeslisten abgedeckt waren. Die Folge: immer mehr Überhang- und Ausgleichsmandate zur Durchsetzung zweier Ziele, die in Konflikt gerieten: der Mehrheitswahl des Abgeordneten im Wahlbezirk und der Verhältniswahl der Partei in der Region.

In einem Parlament mit rund sechs Fraktionen und sieben Parteien, darunter einer mäßig starken Volkspartei, führte dies zu der zu Recht beklagten Aufblähung des Parlaments auf zuletzt 733 Abgeordnete – von avisierten 598 Sitzen (ohne Überhang und Ausgleich). Größer ist im internationalen Vergleich nur der – nicht sehr demokratische – chinesische Volkskongress! Es hätte übrigens in der Zukunft – rein mathematisch – noch viel schlimmer kommen können. Gewönne die Union mit einem kleinen Vorsprung alle Direktmandate in Deutschland und bliebe ähnlich knapp überall stärkste Partei, könnte der Bundestag auf über 1.000 Abgeordnete anschwellen.

Mit Verlaub: Das sind absurde Zustände. Damit hat die Ampelkoalition mit ihrer Wahlrechtsreform Schluss gemacht. Überhang- und Ausgleichsmandate werden abgeschafft. Allerdings wird dafür ein unvermeidbarer Preis gezahlt: Es wird in der Zukunft direkt gewählte Direktkandidaten geben, die nur deshalb nicht in den Bundestag einziehen, weil der Stimmenanteil ihrer Partei im Land nicht ausreicht, um eine entsprechende Anzahl an Abgeordneten zu rechtfertigen – die Folge des neu eingeführten Verfahrens der Zweitstimmendeckung. Das ist bitter, aber nicht zu ändern. Man muss sich eben entscheiden: unkontrollierbare Größe des Parlaments oder im Konfliktfall Priorität des Parteienproporzes.

Das Bundesverfassungsgericht hat dies voll anerkannt. Sein Urteil betont zu Recht den nötigen Gestaltungsspielraum, der dem Gesetzgeber gewährt werden muss, will er die demokratischen Grundprinzipien im Wesenskern wahren.

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Das ist ein Sieg des gesunden Menschenverstands über den prinzipienverliebten Perfektionismus, den wir Deutsche so gerne praktizieren. Dass der Preis nicht zu hoch ist, zeigt ein vergleichender Blick in zwei Mutterländer der Demokratie. In Großbritannien sorgt das reine Mehrheitswahlrecht dafür, dass die Zusammensetzung des Parlaments von den Stimmenverhältnissen der Parteien regelmäßig massiv abweicht. In den Vereinigten Staaten sorgt das föderale Wahlmännersystem dafür, dass jemand zum Präsidenten gewählt werden kann, der gar nicht die Mehrheit des Volkes hinter sich hat. Dagegen ist der künftige Preis in Deutschland überschaubar: wahrscheinlich wenige Direktkandidaten, die trotz Mehrheit im Wahlkreis wegen der Schwäche ihrer Partei leer ausgehen. Bedenkt man, dass in modernen Demokratien die Abgeordneten – ob direkt oder über eine Liste gewählt – viel stärker weltanschauliche Ideen als lokale Interessen repräsentieren, erscheint dies gerechtfertigt.

Bleibt jener Teil der Wahlrechtsreform, den das Bundesverfassungsgericht nicht akzeptiert: die Reform der Grundmandatsklausel. Sein Argument: Die Regelung, nach der eine Partei, die an der Fünfprozenthürde scheitert, auch im Falle von drei eroberten Direktmandaten nicht in proportionaler Stärke im Bundestag vertreten sein darf, ist für die Funktionsfähigkeit des Parlaments nicht nötig. Auch da ist dem Gericht zuzustimmen. Man fragt sich, warum eigentlich die Ampelkoalition diese Regelung in ihre Wahlrechtsreform integrierte, wo diese doch mit dem eigentlichen Kernproblem, der Größenkontrolle des Bundestags, kaum etwas zu tun hat. Wollte man nur die potenziell betroffene CSU (und auch die LINKE) ärgern? Mit Blick auf das unkooperative Verhalten der Union in der Wahlrechtsfrage mag dies verständlich gewesen sein. Das unnötige Ergebnis ist allerdings, dass hier ein neuer gesetzgeberischer Anlauf genommen werden muss.

Aber eine verfassungsfeste Lösung könnte relativ leicht möglich sein. Das Hauptproblem, die Größenkontrolle des Parlaments, ist verfassungsrechtlich vom Tisch. Damit sollte der Weg frei sein für die nächste Bundestagswahl, voraussichtlich im September 2025.