Politikum Corona
Der Westbalkan im geostrategischen Kräftespiel
Auch Südosteuropa macht – bis auf Serbien – der Impfstoffmangel zu schaffen. Obwohl fast alle Westbalkan-Staaten die ihnen zugesagten Impfstofflieferungen über das Covax-Programm der WHO bereits bezahlt haben, haben einige kleinere EU-Anwärter – wie Kosovo, Bosnien und Herzegowina oder Nordmazedonien – bislang nur eine minimale Anzahl westlicher Impfstoffdosen erhalten. Wie den EU-Anwärtern machen auch den EU-Mitgliedern in der Region die Lieferschwierigkeiten westlicher Produzenten zu schaffen, ist das Vertrauen in die Brüsseler Beschaffungsanstrengungen bereits erheblich untergraben.
Ob in der EU oder im EU-Wartesaal: Die Geduld nimmt ab, die Enttäuschung über die EU steigt und das darin enthaltene Politisierungspotenzial wird von Dritten im geostrategischen Kräftespiel gerne genutzt. Immer mehr Staaten in der Region beginnen nach serbischem Vorbild auf direkte Verhandlungen mit den Produzenten und Lieferverträge zu setzen – vor allem mit China und Russland.
Vom Verharmloser zum Vorreiter: Serbien
Unvergesslich bleibt für viele Serben eine Episode, wenn das Stichwort „Corona“ fällt. Vor einem Jahr, am 27. Februar 2020 fand jene denkwürdige Pressekonferenz der serbischen Regierung und ihres Präsidenten statt, bei der ein medizinischer Regierungsberater das Corona-Virus als das „lustigste Virus der Geschichte“ bezeichnete und den serbischen Frauen den Rat gab, gerade jetzt ins schwer gebeutelte Italien zu reisen, da es dort gegenwärtig auf viele Produkte ordentliche Rabatte gäbe und Frauen durch den erhöhten Östrogenspiegel ohnehin vor dem Virus geschützt seien. Präsident Vučić rang im Hintergrund sichtbar um Haltung um schliesslich herzhaft mitzulachen. Gesundheitsminister Loncar teilte noch mit, dass dieses Virus „viel schwächer“ sei als die normale Grippe.
Keine zwei Wochen später wechselte die Regierung vom Modus der Belustigung in den der Panik, und es wurden die europaweit schärfsten Maßnahmen im Kampf gegen das Virus verhängt. Seitdem bewegt sich Serbien im Wechselspiel von Lockerungen und neuerlichen Verschärfungen, wobei im vergangenen Jahr taktische - Wahlkampf bedingte - Maßnahmen eine nicht unerhebliche Rolle spielten. So etwa als man im Vorfeld der Parlamentswahl am 21. Juni das lokale Fußballderby in Belgrad mit über 20.000 Besuchern wider epidemiologischen Rat zur Freude der Fans einfach stattfinden ließ.
Seit produzierte Impfstoffe verfügbar sind, hat sich das Blatt allerdings sichtbar gewendet. Schon vor Weihnachten wurde im Land mit ersten Impfungen von Ärzten und Pflegern mit dem BioNTech/Pfizer-Serum begonnen – die erste Impfung erhielt Regierungschefin Ana Brnabić. Anfang Januar ließen sich russophile Politiker wie Innenminister Aleksandar Vulin und der Parlamentsvorsitzende Ivica Dacić als erste mit dem russischen Serum Sputnik V impfen. Doch russischer Impfstoff war im Januar in Serbien zunächst auch schwer zu erhalten. Das hat sich geändert. Mehrere zehntausend Dosen sind in der Zwischenzeit eingetroffen.
Erst nachdem Mitte Januar ein Transportflugzeug aus Peking mit einer Million Sinopharm-Dosen an Bord in Belgrad landete, kamen am 19. Januar schliesslich die Massenimpfungen in Gang. Bisher haben rund eine Million Menschen die erste Impfung erhalten. Dank der chinesischen Lieferung liegt nun Serbien laut OurWorldinData mit einer Impfrate von über 12 Prozent der Bevölkerung (Stand 18.2.) in Europa hinter Großbritannien an derzeit zweiter Stelle. Eine beachtliche Leistung.
Politische Folgen und Implikationen
Mehr und mehr zeichnen sich aber auch politische Folgen der Corona-Krise ab.
Wie ein Katalysator verstärkt sie einen schon länger zu beobachtenden „Trend zur Autokratisierung“.[1] Bereits zu Beginn der Krise nutzte Präsident Vučić einen von der EU-Kommission und ihrer Präsidentin verkündeten Exportstopp von medizinischen Schutzgütern für einen Frontalangriff: „Ursula von der Leyen hat beschlossen, dass wir kein Recht auf diese Güter haben. Jetzt ist jedem klar, dass die europäische Solidarität nicht existiert. Es war ein schönes Märchen. Die einzigen, die uns jetzt helfen können, ist die Volksrepublik China. Ich habe einen Brief an Xi Jinping geschrieben, ich habe ihn nicht Freund genannt, sondern Bruder, nicht meinen persönlichen Freund, sondern der Freund und Bruder meines Landes. Nur China kann uns helfen.“[2]
Auch wenn diese Äußerungen vor dem Hintergrund der realen Bedeutung und alle anderen Akteure weit überragenden Engagements der EU in der Region nicht zum Nennwert genommen werden sollten, so greifen auf der anderen Seite Interpretationen zu kurz, die eher Routinen folgen und dadurch die Bedeutung sich anbahnender oder bereits bestehender strategischer Allianzen nicht hinreichend erfassen.
So plausibel also das Verhalten des serbischen Präsidenten als bewährtes Druckmittel eines kleinen Landes im traditionellen Kräftespiel mit regionalen Einflussmächten erscheinen mag, so unzureichend wird es der „strategischen Nähebeziehung zwischen Serbien und China“[3] gerecht, die bereits auf vielerlei Ebenen zum Tragen kommt. Die kurzzeitige großflächige Plakatierung vergangenes Jahr im Zentrum Belgrads - „Danke, Bruder Xi“ - mag noch als Symbolpolitik durchgehen, die Volte des Präsidenten gegen die EU war demgegenüber keine Petitesse: „Hier nahm vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit der Präsident eines der EU-Erweiterungskandidaten den Schaden für die Beziehungen mit der EU nicht nur in Kauf, er zelebrierte gar die neue Ausrichtung nach China als neuen Hoffnungsträger öffentlich.“[4]
Die EU selbst ist an dieser Entwicklung freilich nicht ganz unschuldig.
Zwischen Sündenbock und Fehlverhalten: EU
Die Außenminister von 13 EU-Staaten hatten zu Jahresbeginn einen Brief unterzeichnet, in dem sie dazu aufriefen, die Impfstoffe mit den EU-Anwärtern auf dem Balkan zu teilen. Eine Initiative, die rasch im Sande verlief. Während die Lieferschwierigkeiten der Westproduzenten dem Ansehen der EU erheblich schaden, stärken sie gleichzeitig das Image von Peking und Moskau. Der Ruf Chinas auf dem Balkan nehme stark zu, während Serbiens Präsident Aleksander Vučić „den nationalen Helden“ mimen könne, umschreibt der serbischsprachige Dienst der Deutschen Welle den beiderseitigen Nutzen und Nebeneffekt der chinesischen Serum-Offensive: „Denn statt Versprechen liefert China Impfstoff.“
Die EU gerät dabei immer mehr in die Defensive. Neben dem mangelhaften Corona-Management ist in den vergangegen Jahren auch das eher halbherzige Interesse an der EU-Erweiterung nicht unbemerkt geblieben. Die EU hat offensichtlich andere Sorgen. Selbst die deutsche EU-Präsidentschaft vermochte das ärmste EU-Mitglied Bulgarien nicht zum Einlenken bei der Frage seiner Blockade der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nord-Mazedonien zu bewegen. Der augenscheinliche Stillstand bei der EU-Erweiterung ist allerdings nicht nur für Skopje und Tirana, sondern für die ganze Region eine Enttäuschung.
„Findet den Impfstoff, mit oder ohne EU!“
Kurz nach Serbien unterzeichnete als erstes EU-Mitglied auch das benachbarte Ungarn im Januar erste Lieferverträge mit Russland und China (Zitat Premier Orban: „Wir wollen Impfstoffe, keine Versprechen“). Direktverhandlungen mit den Produzenten haben im Westbalkan mittlerweile Bosnien und Herzegowina und Nord-Mazedonien angekündigt.
Zumindest das dank China besser als andere mit Serum versorgte Serbien hat sich in den letzten Wochen auch in einer Art Impfstoff-Diplomatie versucht. So hat Belgrad im letzten Monat 8000 erhaltene Pfizer-Dosen an Nordmazedonien „abgetreten“, also verkauft: Immerhin konnten damit wenigstens die Ärzte in den dortigen Covid-Kliniken geimpft werden.
Eher für Nachbarschaftsärger sorgte die von Belgrad angekündigten Impfungen von Angehörigen von Kosovos serbischer Minderheit im serbisch besiedelten Norden des Landes. Pristina war über die erste Übersendung von Impfdosen nach Nordkosovo alles andere als erbaut. Nach heftigen Protesten Pristinas werden impfwillige Kosovo-Serben nun im Mutterland in grenznahen Provinz-Kommunen wie Bujanovac, Kursumlija ofrt Raska geimpft.
Die Stimmung ist auch andernorts zunehmend gereizt. Nicht nur der ehemalige tschechische Präsident Vaclav Klaus hat aus Verärgerung und in bekannter Anti-EU-Rhetorik über die „Unfähigkeit der EU“ Moskau kürzlich um Lieferung von Sputnik-Impfstoff gebeten. Auch klar westlich orientierte EU-Mitglieder in der Region setzen vermehrt auf die Impfstoffbeschaffung auf eigene Faust.
So hat auch Rumänien einen Vertrag zum Bezug von neun Millionen Dosen des deutschen, noch nicht zugelassenen Impfstoff CureVac unterzeichnet. Wie in Tschechien wird der Bezug oder die Lizenzproduktion von russischem Serum auch in der Slowakei diskutiert. Und in Kroatien wird der Ton schriller. Zagreb solle nicht mehr auf „weiteres Phrasendreschen“ in Brüssel warten, sondern den Impfstoff eben auf dem freien Markt beschaffen, fordert das Webportal „index.hr“: „Findet den Impfstoff, mit oder ohne EU. Andere machen es auch.“
Fazit
Die Corona-Krise hat das gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben wie überall in Europa auch auf dem Westbalkan und in Südosteuropa insgesamt nachhaltig beeinflusst. Mehr und mehr machen den Bewohnern der Großregion die wirtschaftlichen Folgen der Krise, das wahrgenommene Desinteresse der EU, geschlossene Grenzen, die sich verschlechternden Perspektiven, die erschwerten Exil-Möglichkeiten und die eingeschränkten Kontakte zu ihren Verwandten im Westen zu schaffen. Das Missmanagement Brüssels bei der Impfstoffversorgung tut ein Übriges.
Mit dem wachsenden Einfluss autoritärer Mächte in der Region sind darüber hinaus politische Implikationen verbunden, die auf Seiten der EU, so scheint es, noch nicht die nötige Aufmerksamkeit erfahren, die sie verdienen. Die Warnungen langjähriger intimer Kenner der Region sollten aber ernst genommen werden, nämlich dass bei Fortsetzung der meist eher reaktiven oder gar passiven Politik Brüssels ein „schnelles Abdriften Südosteuropas hin zu autoritären Bündnispartnern an Wahrscheinlichkeit gewinnt und dass es für den Einsatz und Kampf für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in- und außerhalb der Union auch in Zeiten von Corona keine Alternative geben kann.“[5]
[1] Vedran Džihić, Coronakrise auf dem Westbalkan: Eine erste Analyse des Verlaufs, der Folgen sowie der demokratiepolitischen Implikationen, in: Südosteuropa Mitteilungen, 01-02/2020, S. 7-20, hier S. 11 [2] Ebd. S. 12 [3] Ebd. [4] Ebd.[5] Ebd. S. 18
Michael Roick ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für dien Westbalkan mit Sitz in Belgrad.
Dieser Beitrag erschien erstmals am 18.02.2021 in gekürzter Fassung im Tagesspiegel.