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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Wettbewerb
Der Mega-Marshall-Plan des Mario Draghi

Der ehemalige EZB-Chef empfiehlt für die EU massiv mehr gemeinsame Schulden für massiv mehr gemeinsame Investitionen. Was fehlt, ist politisches und marktwirtschaftliches Augenmaß.
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Mario Draghi überreicht Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Bericht

© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Wiktor Dabkowski

Es stimmt: Nicht nur Deutschland, sondern die gesamte Europäische Union (EU) leidet an einer Investitionsschwäche. Deshalb empfiehlt Mario Draghi in seinem viel beachteten Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU eine Art neuen Marshallplan, mit jährlichen Mindestinvestitionen von 750 bis 800 Milliarden Euro. Das sind rund fünf Prozent der jährlichen EU-Wirtschaftsleistung – und damit prozentual mehr als doppelt so viel wie der berühmte Marshall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein gigantisches Volumen!

Inhaltlich ist gegen den Plan im Einzelnen kaum etwas einzuwenden. Die Maßnahmen zielen auf all jene Standardbereiche, die zur Wachstumsbeschleunigung auch in Deutschland im Gespräch sind. Hauptziele und Mittel sind dabei u. a. (1) die Schließung der Innovationslücke gegenüber den USA und China etwa durch Gründung einer „Advanced Research Projects Agency“ nach amerikanischem Vorbild, (2) die Verbilligung der zu teuren Energie durch grenzüberschreitende Energienetze und niedrigere Besteuerung sowie (3) die Verringerung der geopolitischen Abhängigkeit bei Rohstoffen und Chips durch eine gemeinsame Sicherheits- und Rüstungsstrategie sowie Beschaffung von Waffensystemen. All dies ist im Kern vernünftig, auch wenn die Vorschläge zum Teil etwas industriepolitisch akzentuiert daherkommen und im Übrigen keineswegs originell sind. Dies gilt vor allem auch für die geforderte Bekämpfung von Bürokratie, nachdem die EU in Brüssel über Jahrzehnte viel mehr zu deren Auf- als deren Abbau beigetragen hat.

Wirklich kritisch wird es allerdings bei Draghis Plänen zur politischen und finanziellen Umsetzung. Diese sind überaus EU-zentralistisch. Einstimmigkeit ist beim Beschluss der Projekte nicht mehr verlangt. Eine Mehrheit kann entscheiden, und auch ein Alleingang einer „Koalition der Willigen“ ist denkbar. Dies alles wirkt bei der derzeitig grassierenden Europa-Skepsis merkwürdig technokratisch und unrealistisch. Das gilt vor allem auch für die Beschaffung des nötigen Geldes: Das enorme Mittelvolumen, das zu mobilisieren ist, will Draghi über gemeinsame Anleihen finanzieren, und dies im Rahmen einer vollendeten Kapitalmarktunion. Also im Klartext: eine Haftungsgemeinschaft, und zwar nicht nur für Situationen des Notstands wie in der globalen Finanz- und der Europäischen Schuldenkrise, sondern – wenn man so will – für den täglichen Normalfall der Finanzierung von Investitionen in einem Volumen von fünf Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung!

Mit Verlaub: Dies wäre eine zentralistische Revolution, die überhaupt nicht in unsere Zeit passt. Es kann da nicht verwundern, dass aus Deutschland, den Niederlanden und Finnland deutlicher Protest vernehmbar war. Zu Recht: Mitte der zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts erwarten die Menschen gleich welcher europäischer Nationalität von ihren Regierungen und der EU nicht riesige institutionelle Reformen und Prestigeprojekte, sondern eine konkrete Verbesserung ihrer Lebensbedingungen – etwa durch Kontrolle der illegalen Migration, Senkung der Steuerlast und Verbesserung der Infrastruktur. Da kommt Draghis technokratischer Ansatz zur Unzeit. Besser wäre es, die EU-Mitgliedsländer machen – unabhängig voneinander – ihre marktwirtschaftlichen Hausaufgaben und wirken an jenen ausgewählten Engpässen zusammen, die das Wachstum behindern und nur durch internationale Zusammenarbeit gelöst werden können. Manches von dem, was der Draghi-Bericht thematisch behandelt, fällt tatsächlich darunter. Ob dies aber jenen teuren zentralistischen Großwurf voraussetzt, den Mario Draghi empfiehlt, kann bezweifelt werden.