60 Jahre Mauerbau
Freiheit der Füße
Vor 60 Jahren wurde die Berliner Mauer gebaut. 12 Jahre nach Gründung der DDR beendete sie die Abwanderung. Ein Offenbarungseid der totalitären Ideologie.
Im Jahr 1970 veröffentlichte Albert O. Hirschmann, in Berlin geborener amerikanischer Volkswirt deutsch-jüdischer Herkunft, ein Buch mit dem Titel: Exit, Voice and Loyalty. Es ging darin um die grundlegenden drei Alternativen der Reaktion, die den Menschen zur Verfügung stehen, wenn eine gesellschaftliche Organisation, in der sie leben, nicht so funktioniert, wie sie es wünschen. Sie können die Zähne zusammenbeißen und loyal weiter mitarbeiten – in einem Zustand der Frustration und Unzufriedenheit. Sie können die Stimme erheben, protestieren und versuchen, die Verhältnisse zu ändern. Und sie können versuchen, den territorialen Machtbereich der betreffenden Organisation zu verlassen, also: zu gehen.
Es war diese letzte Option, von der zwischen der Gründung der DDR 1949 bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 rund 2,7 Millionen Menschen Gebrauch machten. Das waren per saldo – nach Abzug der zugewanderten Personen – rund 11,1 Prozent der DDR-Bevölkerung des Jahres 1950 und 13,4 Prozent der damaligen Erwerbsbevölkerung. Ein gewaltiger Aderlass an wirtschaftlicher und sozialer Produktivkraft, der noch dramatischer als die Zahlen ausfällt, wenn man bedenkt, dass es sich bei den abwandernden Menschen im Durchschnitt um besonders gut qualifizierte Berufsgruppen handelte, wie alle vorhandenen Statistiken bestätigen.
Es ist deshalb sachlich nicht falsch, den Mauerbau als eine Art „Notmaßnahme“ gegen das Ausbluten der DDR-Gesellschaft zu bezeichnen. Dies nimmt ihm allerdings nichts von seiner Inhumanität. Im Gegenteil: In gewisser Weise macht es besonders deutlich, wie ungeheuer unmenschlich das gewaltsame Schließen der Grenzen nach innen war. Denn es sorgte dafür, dass die Menschen der DDR nicht mehr frei entscheiden konnten, wo sie ihr persönliches Glück suchen wollen: ob in der sozialistischen Diktatur plus Planwirtschaft der DDR oder in den liberalen Demokratien plus Marktwirtschaft des Westens, insbesondere der Bundesrepublik, die ihnen als Deutsche die Staatsbürgerschaft zuerkannte.
Diejenigen, die das Schließen der Grenze damals rechtfertigten und es zum Teil noch heute tun, ordnen das persönliche Glück der Menschen bestimmten staatlich verordneten Zielen unter. Sie halten das kollektive Ziel – vor 60 Jahren ging es um den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft – für ethisch wichtiger als das individuelle Streben nach Glück, „the pursuit of happiness“, wie es die amerikanische Verfassung so wunderbar formuliert. Genau diese Priorität des Kollektiven über das Individuelle ist der Kern des Totalitarismus. Es ist die Demarkationslinie zwischen einem kollektivistischen und einem freiheitlichen Weltbild. All diejenigen, die eine Abstimmung mit den Füßen als Flucht vor der Verantwortung oder gar Desertieren von der Pflicht deuten, nehmen die Freiheit im Kern nicht ernst. Denn zu dieser Freiheit gehört zwingend das Verlassen von Verhältnissen, die als unerträglich oder auch nur unattraktiv für die eigene Lebensgestaltung angesehen werden.
Genau dies war ja in der DDR der Fall. Es gelang ihr nicht, die Menschen davon zu überzeugen, dass der Verzicht an persönlichem Lebensglück – von der Freiheit bis zum Wohlstand – ein Bleiben und Mitmachen lohnte. Von den DDR-Machthabern wurde natürlich von einer Art unfairen Wettbewerb des Westens gesprochen. Und dieser wurde mit allen möglichen schmähenden Schimpfwörtern bedacht und diffamiert, aber es half nichts: Der Westen blieb anziehend – dank hoher Löhne und geringer Arbeitslosigkeit sowie einer verführerischen Produktwelt, aber auch der Grundrechte von der Meinungs- und Pressefreiheit bis hin zur Freiheit der Berufswahl, der Versammlung und Vereinigung sowie vieles mehr. Die „Unfairness“ des Wettbewerbs bestand eben im Kern in nichts anderem als der Durchsetzung der Menschenrechte.
Der Bau der Mauer war deshalb nicht nur eine wirtschaftliche Notmaßnahme, sondern auch ein moralischer Offenbarungseid. Allen Menschen, die nicht an ideologischer Verblendung litten, war dies von vornherein klar. Es wurde noch viel klarer durch die vielen Maueropfer, also all die Menschen, die bei Fluchtversuchen nach dem Bau der Mauer erschossen wurden oder verblutet sind, weil sie mutig auf ihrer „Freiheit der Füße“ als Menschenrecht bestanden – viele von ihnen in leidenschaftlicher Verkennung von Vorkehrungen der Vernunft. Sie sind und bleiben nichts anderes als Helden der Freiheit.
Flucht in die Freiheit
Vor 60 Jahren wurde die Berliner Mauer gebaut. Danach kam es zu spektakulären Versuchen, die Grenze zu überwinden. Manche gelangen, viele endeten blutig. Diejenigen, die es wagten, verdienen eine ehrende Erinnerung voller Demut und Respekt. Sie haben der Freiheit ein Denkmal gesetzt.