Wahlen in Argentinien
Liberale in Feierlaune
Die Wahlen zu beiden Kammern des Kongresses am 14. November bedeuten einen tiefen Einschnitt für Argentinien. Die Hälfte der 257 Abgeordneten der Cámara de Diputados (zu Deutsch: Abgeordnetenkammer) sowie ein Drittel der 72 Senatorinnen und Senatoren wurden neu bestimmt, die Abgeordneten für vier, die Senatsvertreter für sechs Jahre. Die beiden wichtigsten Ergebnisse: Im Parlament, der Cámara, gibt es erstmals seit rund drei Jahrzehnten eine eigenständige Gruppe profilierter Liberaler. Im Senat verloren die staatstragenden Peronisten die Mehrheit, zum ersten Mal seit 1983, seit der Rückkehr des Landes zur Demokratie nach sieben bleiernen Jahren Militärdiktatur. Alberto Fernández, dem 2019 gewählten peronistischen Präsidenten, und seiner Regierung dürften die neuen Mehrheitsverhältnisse die Arbeit in den kommenden zwei Jahren enorm erschweren – Präsidentschaftswahlen stehen erst 2023 wieder an.
Der Kongress wird sich in der neuen Zusammensetzung am 10. Dezember konstituieren. In Argentinien schließen sich die Parteien in Wahlkampfzeiten häufig zu Allianzen zusammen. Im Kongress bilden sie sogenannte bloques, also Blöcke, vergleichbar mit den Fraktionen in den deutschen Parlamenten. Beides geschieht aus Gründen der Erhöhung der Wahrnehmbarkeit und Schlagkraft. Über eine absolute Mehrheit im Parlament verfügt ab Dezember kein Block mehr. Frente por Todos (FdT, frei übersetzt: „Volksfront“), das peronistische Parteienbündnis, kommt auf 118 Sitze, zwei weniger als bisher, Juntos por el Cambio (JC, „Gemeinsam für den Wechsel“), gewinnt einen Sitz und kommt zukünftig auf 116. Abgestraft haben die Wähler den Peronismus vor allem für eine Anti-Covid-Politik, die auf Verbote und Gängeleien gesetzt und die chronisch angespannte wirtschaftliche Lage weiter verschärft hat. Die Armut wächst, und die jährliche Inflationsrate liegt mittlerweile bei gut fünfzig Prozent.
Ideologisch farbenprächtig
Profitiert hat vom Negativimage der Regierung zunächst JC. Das größte Oppositionsbündnis vereint ein weltanschaulich breites Spektrum von Parteien und Einzelpersönlichkeiten. Es bietet Sozialdemokraten und Konservativen gleichermaßen eine politische Heimat. Gemeinsames Band ist die Aversion gegenüber der linkspopulistischen Variante des Peronismus, die vor allem mit der Person Cristina Kirchner verbunden ist, Staatschefin von 2007 bis 2015 und derzeitige Vizepräsidentin. Diese Frontstellung macht JC auch für Liberale wie den ehemaligen Wirtschafts- und Verteidigungsminister Ricardo López Murphy attraktiv.
Ähnlich wie in den deutschen Bundesländern treten die Parteien und Parteienbündnisse in den einzelnen Provinzen und in der über einen provinzähnlichen Status verfügenden Hauptstadt mit eigenen Listen an. Die allgemeine Aufmerksamkeit richtete sich am Sonntag vor allem auf die Ergebnisse in der Stadt Buenos Aires und der gleichnamigen Provinz. Etwa zwanzig Millionen Menschen und damit knapp die Hälfte der rund 45 Millionen Argentinierinnen und Argentinier leben hier. López Murphy, langjähriger Partner der FNF, kandidierte auf Platz 4 der ideologisch farbenprächtigen Liste von JC in der Stadt Buenos Aires. Die Liste kam auf gut 47 Prozent, ähnlich viel wie bei den Vorwahlen im September. Sieben Abgeordnete wird sie ins Parlament schicken.
Landesweite Identifikationsfigur
López Murphy wird die Fackel der Freiheit dabei nicht als einziger hochhalten. Der Einzug ins Parlament gelang außerdem fünf Kandidaten zweier formal liberaler Bündnisse: zwei Bewerbern von La Libertad Avanza („Die Freiheit geht voran“), angeführt vom Populisten Javier Milei* (Stadt Buenos Aires), und drei Kandidaten der namensähnlichen Allianz Avanca Libertad von José Luis Espert (Provinz Buenos Aires). Bei Abstimmungen dürften diese Abgeordneten künftig vor allem die JC-Fraktion unterstützen. Dieser breite, informelle Anti-Kirchner-Block hätte damit mehr Gewicht als FdT.
Schon bei den Vorwahlen im September hatte der durch seine Omnipräsenz in den neuen Medien und seine extrovertierten Fernsehauftritte bekannte Ökonom Milei mit seiner Liste aus dem Stand rund 13 Prozent erreicht. Am Sonntag waren es gut 17. Die Hoffnung, die FdT-Liste zu überrunden, erfüllte sich zwar nicht – die Peronisten erreichten rund ein Viertel der Stimmen. Schon der dritte Platz in der Hauptstadt aber macht Milei zu einer landesweiten Identifikationsfigur vor allem der inflationsmüden, sozial verunsicherten und internetaffinen Millenials und Post-Millenials. Mehrere tausend Menschen feierten ihn am Wahlabend im Zentrum der Hauptstadt wie einen Popstar. Dieser Personenkult gefällt nicht jedem, genauso wenig wie der schrille, bisweilen aggressive Tonfall, den er in seinen öffentlichen Auftritten bisweilen anschlägt. Es bleibt zu hoffen, dass der Arbeitsalltag als Abgeordneter sein Temperament ein wenig zügelt.
Victoria Villarruel, die Nummer 2 auf seiner Liste, folgt ihm ins Parlament.
Seilschaften sind in Beton gegossen
In der Provinz Buenos Aires fuhr Espert, Wirtschaftswissenschaftler wie Milei, 7,5 Prozent ein, etwa doppelt so viel wie bei den Vorwahlen. Die Provinz gilt als traditionelle Hochburg der Peronisten. Deren Seilschaften sind in Beton gegossen. Selbst ein einstelliges Resultat für die Opposition hat daher eine ähnlich hohe Symbolkraft wie das zweistellige, das Milei in der eher peronismusskeptischen Hauptstadt erreicht hat. Seit den achtziger Jahren, seit den Tagen des legendären Álvaro Alsogaray, Brieffreund von Wirtschaftswunder-Vater Ludwig Erhard, hat kein liberales Bündnis in der Provinz mehr einen Fuß auf den Boden bekommen. Neben Espert werden Carolina Píparo und Hugo Bontempo, die Nummern zwei und drei auf seiner Liste, ins Parlament einziehen.
Selbst in ihrer Hochburg liegen die Peronisten nur noch auf Platz zwei. Immerhin fiel der Rückstand der JC-Liste gegenüber nicht ganz so deutlich aus wie in vielen Umfragen prognostiziert – auf JC entfielen 39,8 Prozent, auf FdT 38,5, ein wenig mehr als im September. In 15 Provinzen indes haben die Peronisten zum Teil dramatische Stimmverluste zu verkrafte, darunter in San Luis im Westen des Landes, über Jahrzehnte eine todsichere Bank. In der zentralargentinischen Provinz Córdoba, in puncto Einwohnerzahl an zweiter Stelle, erreicht FdT gerade noch etwas mehr als zehn Prozent.
In bester Autokraten-Manier
Statt die Gründe der Niederlage analysieren zu lassen, hat Präsident Fernández seine Anhänger für Mittwoch zur Teilnahme an einer Siegesfeier in Buenos Aires aufgerufen. Um eine Wirklichkeitsverweigerung in bester Trumpscher Autokraten-Manier handelt es sich dabei allerdings nur auf den ersten Blick. Der Präsident sammelt seine Truppen. Der Riss zwischen ihm und seiner Stellvertreterin Cristina Kirchner ist tief. Schon für die Verluste bei den Vorwahlen vor zwei Monaten machte man sich gegenseitig verantwortlich. Die anschließend vorgenommene Kabinettsumbildung galt gemeinhin als Beleg dafür, dass die Vizepräsidentin und ihre Seilschaften das Sagen im Land haben. Nicht auszuschließen, dass die FdT-Allianz zerbricht, entlang der Linie zwischen linkspopulistischen Kirchneristen und dem traditionellen, ideologisch eher diffusen Peronismus um den Staatschef.
Die Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren haben auch die Oppositionsparteien natürlich längst im Blick. Ex-Präsident Mauricio Macri hat sich bereits in Stellung gebracht und umgarnt Milei und Espert. Auch seine JC-Parteifreundin, Ex-Sicherheitsministerin Patrica Bullrich, läuft sich warm. Ihre Nähe vor allem zu Milei nährt die Phantasien der politischen Kommentatoren schon seit geraumer Zeit. Bei aller Konkurrenz: Macri und Bullrich eint die Überzeugung, dass nur eine umfassende und konsequente Reformagenda, wie sie den beiden Parlamentsneulingen vorschwebt, die chronische Schulden- und Inflationskrise des Landes überwinden kann. Anderen Vertretern der politischen Bauchlanden-Allianz JC wie Horacio Larreta, Bürgermeister von Buenos Aires, oder María Eugenia Vidal, Listen-Erste in der Hauptstadt, sind liberale Visionen und Rezepte eher suspekt.
Auch das Oppositionslager also könnte sich neu sortieren. Allerdings gilt auch: Die Situation, in der sich Argentinien ökonomisch und sozial derzeit befindet, lässt eigentlich keine weiteren politischen Spielereien mehr zu. Es muss gehandelt werden, jetzt, nicht erst 2023. Es bleibt zu hoffen, dass zumindest die Opposition und damit natürlich auch die neuen liberalen Mandatsträger das begreifen.
Dr. Lars-André Richter leitet das Büro der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit (FNF) in Buenos Aires. In seinen Zuständigkeitsbereich fallen die Länder Argentinien und Paraguay. Marcelo Duclos ist Mitarbeiter im FNF-Büro Buenos Aires.
*Die Stiftung distanziert sich von Inhalt und Politikstil von Javier Milei, da sie nicht dem Liberalismus-Verständnis der Stiftung entsprechen.