WELT Gastkommentar
So viel Ludwig Erhard steckt in Javier Milei
Nach einem Jahr zeigt das Stabilitäts- und Wachstumsprogramm des argentinischen Präsidenten Erfolge. Es weist verblüffende Parallelen zum Ansatz von Ludwig Erhard auf. Der frühere Bundeskanzler brachte Nachkriegsdeutschland den Wohlstand zurück.
Die deutsche Wirtschaft stagniert. Unser Land braucht dringend einen liberalen Fitnessplan. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat dazu auf die Umgestaltungspläne von Elon Musk in den USA und Javier Milei in Argentinien verwiesen. Was von Musks Absichten in der kommenden Administration umgesetzt wird, ist noch völlig unklar. Aber der Blick nach Argentinien auf die weitreichenden Reformen seit der Amtseinführung Mileis vor einem Jahr ist erhellend. Der Populist verwendete dabei ein rustikales Kampagnensymbol: die Kettensäge.
Tatsächlich zeigen sich bei den Reformen Mileis erste Erfolge: Die Inflation geht drastisch zurück, das Angebot an Wohnungen nimmt zu, neuerdings gibt es ermutigende Statistiken des Wirtschaftswachstums – allerdings nach einem scharfen konjunkturellen Einbruch, im Zuge dessen die Armutsquote, die schon vorher mit rund 45 Prozent sehr hoch lag, weiter auf über 50 Prozent angestiegen ist. Kein Wunder also, dass Reformskeptiker den Aufruf Christian Lindners zu mehr Tatkraft à la Milei lauthals verdammt haben.
Aber die Reformskeptiker liegen falsch. Um dies zu erkennen, braucht es eine differenzierte Betrachtung, die den „Januskopf“ Milei angemessen behandelt: als einen liberalen Wirtschafts- und Finanzpolitiker einerseits und einen reaktionären, populistischen Rhetoriker andererseits. Die erste seiner beiden Seiten ist für uns diskussionswürdig, die andere nicht akzeptabel.
"Von Mileis Mut kann sich die FDP etwas abschauen"
Argentiniens Präsident Milei zeige Mut zur Reform – ein Vorbild für Deutschland, allerdings nur in der Wirtschaftspolitik, sagt Karl-Heinz Paqué, Vorstandsvorsitzender der FNF, im SPIEGEL-Interview.
Mileis Stabilitäts- und Wachstumsprogramm ist klassisch liberal. Es könnte tatsächlich weitestgehend von Ludwig Erhard stammen, der 1948 gemeinsam mit den Besatzungsmächten dem Westen Deutschlands nicht nur eine Währungsreform mit fortan stabilem Geld, sondern auch eine umfassende Liberalisierung der Preise verordnete.
Gerade diese Preisliberalisierung, die Erhard nicht im Detail mit den Alliierten abgestimmt hatte, stieß auf Widerstand der Gewerkschaften sowie linker Politiker. Dabei erhielt Erhard Inspiration und öffentliche Unterstützung von ordoliberalen Ökonomen, vor allem Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Leonhard Miksch. Er selbst war es dann, der den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ popularisierte und das Wirtschaftswunder anstieß.
Trotz zerstörter Städte konnte Erhard in Deutschland auf ein Wachstumspotenzial zurückgreifen, das in Argentinien erst wieder mühsam ausgebaut werden muss. Denn 1948 herrschten hierzulande zwar Armut und Elend, die traditionell starke deutsche Industrie war durch zwölf Jahre Naziherrschaft und drei Jahre Besatzung gefesselt, jedoch im Kern gesund und nach Reparatur der Bombenschäden „wachstumsbereit“, was allerdings viele pessimistische Beobachter nicht wahrhaben wollten.
Nicht so der notorische Optimist Ludwig Erhard. Er wagte den großen marktwirtschaftlichen Wurf, behielt Recht und versöhnte anschließend in jahrzehntelanger Überzeugungsarbeit viele Deutschen mit der (Sozialen) Marktwirtschaft.
Strukturwandel hat schon begonnen
Javier Milei hat eine viel komplexere Ausgangslage geerbt als seinerzeit Erhard: Über Jahrzehnte wurde Argentinien vom Peronismus ruiniert – durch massive Preis-, Miet- und Kapitalverkehrskontrollen, extrem protektionistische Handelspolitik und eine nicht-konvertible überbewertete Währung, zuletzt durch ungebremste Hyperinflation. Der Bedarf an marktwirtschaftlicher Anpassung ist gigantisch.
Ein Jahr Wirtschaftspolitik von Javier Milei
Javier Milei trat im Dezember 2023 das Amt des argentinischen Präsidenten an und kämpft seitdem gegen Hyperinflation, hohe Armut und wirtschaftliche Missstände. Ein Jahr später: erste Erfolge, aber viele Herausforderungen.
Und der scharfe Strukturwandel nach Öffnung der Märkte hat schon eingesetzt. Unternehmer vor Ort berichten über neue Marktchancen im In- und Ausland durch die Deregulierung. Was noch fehlt, ist die außenwirtschaftliche Liberalisierung mit Abschaffung der Kapitalverkehrskontrollen und Freigabe des Wechselkurses.
Aber Studierende schöpfen bereits jetzt so viel Hoffnung für ihr Land, dass sie Pläne, ihre berufliche Zukunft im Ausland zu suchen, erstmals überdenken. Der Internationale Währungsfonds ist gleichfalls angetan und deutet seine Bereitschaft an, die riesige argentinische Auslandsverschuldung umzuschichten.
Was ist also am Inhalt von Mileis Programm verwerflich? Es ist demokratisch vom Kongress legitimiert. Milei hat – jedenfalls bisher – das Parlament und den Rechtsstaat respektiert. Auch bekennt er sich, anders etwa als der brasilianische Präsident Lula, in den geoökonomischen Spannungen zwischen dem Westen und China eindeutig zum Westen.
Zugegeben: Mileis Rhetorik stammt aus dem befremdlichen Werkzeugkasten eines Anarcho-Kapitalisten, der den Staat als „Feind“ betrachtet. Aber immerhin ist Milei pragmatisch genug, vom libertären Lehrbuch abzuweichen, wie seine jüngste Zustimmung zum EU-Mercosur-Abkommen zeigt, das er vor seiner Wahl noch strikt als illegitime Staatsintervention in den Freihandel ablehnte. Bilder zeigen ihn zusammen mit jenem Lula, den er zuvor regelmäßig als Sozialisten beschimpfte.
Liberalen Pragmatismus in der Praxis gibt es bei Milei ebenso wie libertären Dogmatismus in der Theorie. Das macht ihn aber noch nicht zum Vorbild für Liberale. Dafür sind seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen inhaltlich zu konservativ oder gar reaktionär und rhetorisch zu populistisch. Er bleibt ein „Januskopf“, ein zwiespältiger Politiker mit Licht und Schatten in seiner Programmatik. Bisher hat er allerdings kaum aktive Gesellschaftspolitik betrieben – jenseits markiger Sprüche, die den Kulturkampf heraufbeschwören.
Lehren für Deutschland
Was können wir in Deutschland von Milei lernen? Im Kern: den Mut zu grundlegenden marktwirtschaftlichen Reformen und das Vertrauen, dass sie zeitnah möglich sind. Hierzulande geht es nicht um eine Revolution mit der Kettensäge, aber doch um beharrliche Reformen mit der Gartenschere.
Durch den mutigen Einsatz der Schere werden neue Schneisen in Wirtschaft und Gesellschaft eröffnet: weg von Bürokratie und hohen Unternehmenssteuern, weg von massiven Subventionen für einige Wenige hin zu besseren Standortbedingungen für alle – und dies bei strikter Wahrung der finanzpolitischen Solidität der Schuldenbremse, die nicht nur die deutsche Bonität, sondern auch die Stabilität des Euro sichert.
Nur durch die dringend notwendige Rückkehr des Vertrauens, den Garten aus eigener Kraft neu und dauerhaft gestalten zu können, ist der schleichende Niedergang der deutschen Wirtschaft aufzuhalten. Wir sind sicher: Ludwig Erhard würde dies heute nicht anders sehen.
Stefan Kolev ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Leiter des Ludwig-Erhard-Forums für Wirtschaft und Gesellschaft in Berlin. Karl-Heinz Paqué ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Vorstandsvorsitzender der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
Dieser Artikel erschien erstmals am 13. Dezember 2024 bei der WELT.