Das Kalenderblatt: 6. Oktober 1923
Von Stresemann I zu Stresemann II
Kaum jemand hat das Datum in seinem Kopf gespeichert, selbst unter historisch sensiblen Gemütern: 6. Oktober 1923, der Tag, an dem das zweite Kabinett des liberalen Kanzlers Gustav Stresemann der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Um vier Uhr morgens hatte man sich nach stundenlangen Verhandlungen auf eine Neuauflage der „Großen Koalition“ von SPD, DDP, DVP und Zentrum geeinigt, nachdem alles schon fast aussichtslos erschienen war.
Was genau drohte zu scheitern? Stresemann hatte am 26. September einseitig den Ruhrkampf beendet – vielleicht eine der mutigsten politischen Entscheidungen, die jemals in Deutschland ohne Gegenleistung getroffen worden sind. Er tat dies in der vagen, aber berechtigten Hoffnung, dass die internationale Lage günstig genug war, um das rettende Ufer einer Währungsstabilisierung mit Stopp der Hyperinflation zu erreichen. Notwendige Bedingung dafür war vor allem der Haushaltsausgleich, und der war nur möglich durch unilaterale Beendigung des Ruhrkampfs, die von Deutschnationalen und Nationalsozialisten als jämmerliche Kapitulation – ein zweites Versailles – betrachtet wurden. Aber das politische Genie in Stresemann erkannte die Schwäche des Frankreich von Poincaré und ahnte die zunehmende Bereitschaft der Amerikaner und Briten, sich für das geprügelte Deutschland im Rahmen eines Stabilisierungsplans einzusetzen.
Das Ende des Ruhrkampfs sollte Deutschland jene finanzpolitische Erleichterung bringen, ohne die ein Haushaltsausgleich und damit eine künftige Entlastung der Notenpresse völlig undenkbar gewesen wäre. Das Ende der Schuldenfinanzierung war die notwendige Bedingung für die Rückkehr zur Geldstabilität, aber natürlich noch lange keine hinreichende Bedingung. Deswegen nutzte Stresemann gleich anschließend die Regierungskrise zum entscheidenden Umbau des Kabinetts von Stresemann I zu Stresemann II. Vor allem der Posten des Finanzministers war dabei entscheidend: Der Sozialdemokrat Rudolf Hilferding, im Urteil selbst seiner Parteifreunde eher Theoretiker als Politiker, wurde durch den parteilosen, aber Stresemanns DVP nahestehenden Hans Luther ersetzt – ein kluger Schachzug, denn Luther, der entscheidungsfreudige frühere Oberbürgermeister von Essen, erwies sich als „the right man at the right time in the right place“. Er kombinierte Entschlossenheit zur Stabilisierung mit jener Kombination aus Härte und Pragmatismus in der Umsetzung, die in solchen dramatischen Ausnahmesituationen allein den Erfolg verspricht.
In der Nacht zum 6. Oktober wurde schließlich ein politischer Kompromiss zwischen den „Flügelparteien“ der Großen Koalition erzielt: Die liberale „Wirtschaftspartei“ DVP verlangte (und erhielt) die notwendige Zustimmung zu einem (modifizierten) Ermächtigungsgesetz, das der Regierung die nötigen Instrumente an die Hand gab, die Stabilisierung auch wirklich kohärent durchzusetzen. Im Gegenzug kam es nur zu einer – ebenfalls modifizierten – Verlängerung der Arbeitszeit zwecks Erhöhung der Produktivität und nicht zum kompletten Abschaffung des Achtstundentags, wie die Arbeitgeber gefordert hatten und es die Sozialdemokraten strikt ablehnten. Also: ein letzter großer Kompromiss zwischen SPD und DVP im Geiste der sog. Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die zur legendären Stinnes-Legien-Abkommen geschaffen worden war.
Das hielt, wenn auch gerade mal für knapp sechs Wochen einer Regierung Stresemann II. Aber was für sechs Wochen! Am Ende stand die erfolgreiche Einführung einer neuen Währung mit Preisstabilität – und der Weg hin zur Öffnung des internationalen Kapitalmarkts durch den Dawes-Plan im April 2024. Am Ende stand auch der Zusammenhalt des Reiches – trotz linke Unruhen in Sachsen, rechter Revolte in Bayern und massiven separatistischen Tendenzen an Rhein und Ruhr, mit jenem Zweikampf des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer und des Reichskanzlers Gustav Stresemann, der die politische Genialität beider aufblitzen ließ. Gustav Stresemann behielt die Oberhand, Konrad Adenauers Pläne einer Herauslösung des Rheinlands aus Preußen (bei Verbleib im Reich) scheiterten. Beide wollten Frieden mit Frankreich und gemeinsame Prosperität, aber beide kämpften hart und unerbittlich für ihren Standpunkt.
Im Nachhinein kann man nur staunend auf den Oktober und November 1923 blicken: Was für ein politisches Drama! Gustav Stresemann erreichte seine Ziele – und wurde danach zum großen liberalen Außenminister der Weimarer Republik, bis zu seinem Tode am 3. Oktober 1929. Er ruinierte dabei seine Gesundheit im Dienst für die deutsche Nation und Europa, aber er rettete sein Land – wie sich allerdings 1933 herausstellte: nur vorübergehend. Es blieb nach dem Zweiten Weltkrieg Konrad Adenauer überlassen, in der völlig neuen Konstellation des Kalten Krieges die Westintegration Westdeutschlands in die Wege zu leiten und den Spielraum für jene soziale Marktwirtschaft zu eröffnen, die dann zum deutschen Erfolgsmodell wurde, auch für das am 3. Oktober 1990 wiedervereinigte Deutschland.