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35 Jahre Mauerfall
Eine historische Chance für ein vereintes Deutschland

Rede von Dr. Wolfgang Gerhardt am 10. November 1989 in Bonn.
Berliner aus beiden Teilen der Stadt auf der Mauer am Brandenburger Tor.

Berliner aus beiden Teilen der Stadt auf der Mauer am Brandenburger Tor.

© picture-alliance / akg-images | akg-images / Pansegrau

Dr. Wolfgang Gerhardt hielt diese bedeutende Rede am 10. November 1989 in Bonn, einen Tag nach dem Fall der Berliner Mauer.

Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Die deutsche Geschichte hat uns in diesem Jahrhundert nicht sehr viele positive Ereignisse beschert. Sie hat uns nicht reichlich mit Ereignissen gesegnet, über die wir uns freuen können. Ich freue mich sehr, dass uns der heutige Tag Gelegenheit gibt, zu einem Ereignis zu sprechen, das die restliche Tagesordnung des Bundesrates in gewisser Weise unwichtig erscheinen und sie zurücktreten lässt.

Die letzten Wochen gehören zu den positiven Ereignissen deutscher Geschichte. Daraus entsteht aus meiner Sicht eine neue deutsche Visitenkarte. Diese wird von unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der DDR geschrieben und ist geschrieben worden. Wir haben sie nicht zu bevormunden; wir haben sie zu beglückwünschen und ihnen unseren Respekt auszusprechen. Sie haben ein vitales Lebensinteresse zum Ausdruck gebracht, und sie haben auch einer verwöhnten Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland deutlich gemacht, dass frei sein von bedrückender sozialer oder materieller Not im Grunde genommen nicht ausreicht, um wirklich frei zu sein.

Sie haben deutlich gemacht, dass sich auf Dauer kein Gesellschaftssystem halten kann, das Menschen private Lebensentscheidungen untersagen will, aus welcher Ideologie heraus und mit welcher inneren Philosophie es auch ein Staatswesen gegründet hat.

Im Übrigen ist durch die gestrige Nacht deutlich geworden, dass in Europa Diskussionen über Grenzfragen entbehrlich sind. Die gestrige Nacht hat deutlich gemacht, dass Grenzen ihre Bedeutung in der Zukunft verlieren werden. Wenn Grenzen ihre Bedeutung verlieren, sollte über Grenzen nicht mehr diskutiert werden. Die deutsche Visitenkarte, die für die internationale Völkergemeinschaft und auch für die notwendigen emotionalen, positiven Beziehungen unter Völkern neu geschrieben wird, bedingt auch, dass sich die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland daran beteiligt.

Herr Bürgermeister Voscherau hat von der Notwendigkeit gesprochen, nicht zu bevormunden, dem ich ausdrücklich zustimme. Wir möchten zunächst von der Bevölkerung der DDR wissen, was sie möchte, und wir sollten ihr nicht sagen, was sie mögen soll. Zu dieser deutschen Visitenkarte gehört auch, dass wir alle unsere Kraft in allen Parteien zusammennehmen, um unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der Bundesrepublik Deutschland jetzt zu sagen, dass hier die Entscheidung auf dem Prüfstand steht, ob unsere von reichlich positiver wirtschaftlicher Entwicklung gesegnete Gesellschaft in diesen Tagen die Kraft aufbringt zu teilen, abzugeben, über Ressourcen zu entscheiden, die gegebenenfalls für andere Menschen und anderswo im Interesse von Frieden und Stabilität in Europa dringen- der gebraucht werden als in von ihren Einkommensverhältnissen her gut situierten privaten Haushalten der Bundesrepublik Deutschland.

Das heißt: Der Beitrag der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, die seit 1945 die Chance gehabt hat, die längste Zeit in der deutschen Geschichte in Freiheit zu leben, ist das Abfragen einer Wertentscheidung, ob sie die Bereitschaft dazu in diesem freiheitlichen System aufbringt oder ob diese Bereitschaft seit 1945 in unserer eigenen Entwicklung verlorengegangen ist. Dies ist schwierig, weil wir alle aus der deutschen Geschichte wissen, dass es politische Gruppierungen gibt, die in solchen Situationen mit dem Feuer spielen und diese Bereitschaft mit Komplexen des Neides und der Nichtbereitschaft, abzugeben, auf ihre politischen Mühlen lenken, und zwar bei vielen alltäglichen Problemen, die insbesondere im Bereich des Wohnungsbaus sicherlich entstehen werden.

Da wir aber aus der deutschen Geschichte wissen, dass solche Gruppierungen in sozialen und gesellschaftlichen Konfliktsituationen bei uns chancenreicher als bei allen europäischen Nachbarn sind, ergibt sich aus meiner Sicht aus den Ereignissen der letzten Wochen unter Beibehaltung der unterschiedlichen politischen Standorte der Parteien die — ich bitte das nicht überhöht zu verstehen — in Kenntnis der deutschen Geschichte notwendige Verantwortung, hier gemeinsam zu handeln.

Die Termine, die vor uns stehen und die — das gilt auch für Entscheidungen bei den nächsten Landtagswahlen und der Bundestagswahl — zeigen, dass wir frei wählen können, dürfen innenpolitisch nicht dazu genutzt werden, um in der entstandenen positiven Situation der deutschen Geschichte kleinkarierte politische Auseinandersetzungen auszutragen.

Wir wissen alle gemeinsam, was an Entscheidungen ansteht. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung, in dieser Situation politische Kräfte, die gegen die Herausforderungen an unsere eigenen Bürgerinnen und Bürger niedere Instinkte mobilisieren, nicht stärker zu machen, als es ihnen in dieser historischen Stunde hinsichtlich ihrer Bedeutung zukommt. Deshalb habe ich es sehr begrüßt, dass wir noch Gelegenheit hatten, zu den Erklärungen zu sprechen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

 

Die Reden von Dr. Wolfgang Gerhardt finden Sie hier.

Bei Medienanfragen kontaktieren Sie bitte:

Florian von Hennet
Florian von Hennet
Leiter Kommunikation, Pressesprecher
Telefon: + 4915202360119