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China Bulletin
Der größte politische Prozess in der Geschichte Hongkongs

Lee Yu-shing (rechts), ein ehemaliger pro-demokratischer Aktivist aus Hongkong, verlässt das Gericht in West Kowloon, nachdem ein Richtergremium ihn für nicht schuldig befunden hat, an einer Verschwörung zur Subversion beteiligt gewesen zu sein. Von den 47 Aktivisten und ehemaligen Abgeordneten, die wegen Verschwörung zum Umsturz angeklagt waren, bekannten sich 16 nicht schuldig.

Lee Yu-shing, ein ehemaliger pro-demokratischer Aktivist aus Hongkong, verlässt das Gericht in West Kowloon, nachdem ein Richtergremium ihn für nicht schuldig befunden hat, an einer Verschwörung zur Subversion beteiligt gewesen zu sein. Von den 47 Aktivisten und ehemaligen Abgeordneten, die wegen Verschwörung zum Umsturz angeklagt waren, bekannten sich 16 nicht schuldig.

© picture alliance / Sipa USA | SOPA Images

Rechtssicherheit und ein hohes Maß an Freiheit, auch, aber nicht nur, für die Wirtschaft – das waren die entscheidenden Faktoren, die Hongkongs Sonderstellung ermöglicht hatten. Der Prozess gegen die „Hongkong 47“, eine Gruppe ehemaliger Parlamentarier, lokaler Volksvertreter und eines Journalisten, hat nun einmal mehr gezeigt, mit welcher Härte Peking gegen die Verfechter demokratischer Freiheiten in der Sonderverwaltungszone vorgeht. 

Ein bekanntes Gesicht nach dem anderen erschien im Bezirksgericht von West Kowloon. Einst waren sie die führenden demokratischen Oppositionsmitglieder im Legislativrat, nun standen sie im größten politischen Prozess in der Geschichte Hongkongs vor Gericht. Viele von ihnen hat die Öffentlichkeit seit 2020 nicht mehr gesehen. Die meisten von ihnen saßen schon vor dem Prozess mehr als drei Jahre im Gefängnis. Unter ihnen sind die ehemaligen Anführer von zwei der größten pro-demokratischen Parteien Hongkongs, der Democratic Party und der inzwischen auf Druck Pekings aufgelösten Civic Party.

Ihr „Verbrechen“? Die Organisation einer inoffiziellen, demokratischen Vorwahl und das Versprechen, ihre Mandate in der Legislative zu nutzen, um ein Veto gegen den Haushalt der Regierung einzulegen und die Regierung von Hongkong zu zwingen, auf die Forderungen der Bevölkerung einzugehen. Eine der zentralen Forderungen war, freie Wahlen zu garantieren. Diese werden der Bevölkerung Hongkongs im Basic Law, jenem Gesetz, das die rechtliche Grundlage für das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ bildet, zugesichert. Wie in vielen demokratischen Parlamenten haben die gewählten Abgeordneten Hongkongs das Recht, ein Veto gegen den Haushalt der Regierung einzulegen und so die Auflösung des Parlaments zu erzwingen. Auch dieser Mechanismus ist in Hongkongs Basic Law vorgesehen. Mit anderen Worten, das "Verbrechen", das den Angeklagten zur Last gelegt wird, besteht darin, dass sie damit gedroht haben, ihre (kollektiven) Grundrechte gemäß dem Basic Law zu nutzen, um die Regierung dazu zu bringen, auf die Forderungen der Menschen einzugehen. Die Staatsanwaltschaft sieht in dieser Ausübung demokratischer Rechte nun einen Akt der "Subversion". Dieser kann mit bis zu lebenslanger Haft bestraft werden.

Bei den letzten demokratischen Wahlen in Hongkong, den Kommunalwahlen im November 2019, gewann das pro-demokratische Lager fast 90 Prozent der Sitze. Daraufhin änderte sich Pekings Haltung gegenüber Hongkong grundlegend. Denn spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde der Parteiführung klar, dass die Demokraten im kommenden Jahr die Kontrolle über Hongkongs Legislative erlangen würden. Das trotz des eigens von Peking entworfenen Wahlsystems. Das konnte die Kommunistische Partei nicht zulassen. Peking verhängte im Juni 2020 das Nationale Sicherheitsgesetz in Hongkong. Mit Unterstützung der Nationalen Sicherheitspolizei und der Richter wurde dieses Gesetz genutzt, um die Opposition zu zerschlagen. Die meisten von ihnen wurden inhaftiert, die Übrigen ins Exil getrieben. Wahlen wurden abgesagt und Regularien geändert, um nur noch "Patrioten" zur Wahl zuzulassen. Unabhängige Medien und die Zivilgesellschaft wurden völlig ausgelöscht.

Drei von der Regierung Hongkongs eingesetzte Richter urteilten über die Angeklagten. Von den Angeklagten sahen 31 keinen Sinn darin, sich gegen die erfundenen politischen Anschuldigungen zu verteidigen und plädierten stattdessen auf schuldig, in der Hoffnung, eine mildere Strafe zu bekommen. Von den übrigen 16 Angeklagten befand das Gericht 14 für schuldig, nur zwei wurden freigesprochen. Das Strafmaß wird das Gericht erst in einigen Monaten verkünden. Die meisten der 47 Angeklagten werden voraussichtlich zwischen 5 und 10 Jahre Haft bekommen. Andere, wie der Verfassungsrechtler Professor Benny Tai, der die Vorwahlen organisiert hatte, müssen mit noch höheren Strafen rechnen.

Selbst in den dunkelsten Tagen der britischen Kolonialzeit oder in der Zeit nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz wurden politische Gefangene oft nach kurzer Haft freigelassen. So wurden viele chinesische Dissidenten, die wegen der Proteste auf dem Tiananmen-Platz inhaftiert worden waren, schnell freigelassen und durften zum Studium in den Westen reisen oder erhielten aus medizinischen Gründen Haftverschonung. Erstaunlich ist, dass die Behörden in Hongkong bei der Verfolgung und Unterdrückung politischer Dissidenten noch weiter gehen als Peking. Drei hochrangige Richter aus dem Vereinigten Königreich und Kanada traten eine Woche nach der Urteilsverkündung zurück oder lehnten eine weitere Amtszeit ab. Lord Sumption, einer der zurückgetretenen Richter aus dem Vereinigten Königreich, warnte, dass die Rechtsstaatlichkeit in Hongkong "in allen Bereichen, die für die Regierung sensibel sind, zutiefst beeinträchtig ist".

Die Volkswirtschaften Hongkongs und Chinas stehen vor den größten Herausforderungen seit vier Jahrzehnten. Der Konsum in Hongkong hat noch nicht wieder das Niveau von vor der Covidpandemie erreicht. Seit 2020 sind mehr als 500.000 Hongkonger ausgewandert. Der Immobilienmarkt ist um 40 Prozent eingebrochen. Geschäfte und Restaurants sind leer. Die Regierung Hongkongs versucht sich gegen diese Entwicklungen zu stemmen und ist bestrebt, das internationale Vertrauen in die Stadt zurückzugewinnen. Dabei steht sie sich jedoch mit ihrer anhaltenden Besessenheit von der nationalen Sicherheit selbst im Weg. So wurden Fußballfans im Stadion von der Polizei abgeführt, weil sie die Nationalhymne "nicht respektiert" hatten. Schulkinder wurden kritisiert, weil sie die Nationalhymne nicht inbrünstig genug sangen. Das Online-Konzert eines pro-demokratischen Sängers wurde von der Polizei gestört. Auch die jüngste Buchmesse in Hongkong unterliegt einer strengen (Selbst-)Zensur. Die Grenzen des Erlaubten haben sich weiter verschoben. Die Menschen in Hongkong leben in ständiger Ungewissheit. Hongkongs Regierungsbeamte wittern überall Gefahren für die Staatssicherheit. So wurden im März 2024 neue Gesetze zur nationalen Sicherheit erlassen, um weitere vermeintliche Schlupflöcher zu schließen, durch die ausländische Kräfte, insbesondere die USA, Einfluss in Hongkong nehmen könnten. Aufgrund dieser Einschränkungen haben noch mehr ausländische Unternehmen das Land verlassen. Gesellschaftliche Freiheit und wirtschaftliche Attraktivität befinden sich in einer Abwärtsspirale.

Wir werden bald erfahren, was mit den 47 Oppositionsmitgliedern geschieht. Wie wir alle haben sie einst an das System "Ein Land, zwei Systeme" geglaubt, das in der gemeinsamen chinesisch-britischen Erklärung entworfen und versprochen wurde. Der politische Prozess um die „Hongkong 47“ beendet alle Illusionen über die Zukunft der Stadt. Er stellt unmissverständlich klar, dass Hongkong nun unter der Kontrolle Pekings steht.

Die Bemühungen der "47" um Demokratie und Freiheit sollten jedoch nie in Vergessenheit geraten. Denn der derzeitige Weg für Hongkong und das übrige China ist unhaltbar. Die Geschichte hat gezeigt, dass autoritäre Diktaturen nicht funktionieren und stets ein katastrophales Ende finden. Historikern wird sich einst die Frage stellen, wie jemand auf die Idee kommen konnte, eine freie, internationale Stadt auf der Grundlage von bloßen Versprechungen auf einem Stück Papier an ein kommunistisches Regime zu übergeben. Auf der anderen Seite der Meerenge sagen die Taiwaner mit der Wahl eines weiteren Präsidenten von der Democratic Progressive Party „Nein Danke“ zur Wiedervereinigung.

 

Anonymus ist ein ehemaliger Abgeordneter aus Hongkong.