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"Samtene Revolution" in Armenien
Armeniens Premier will mit Rücktritt Neuwahlen erzwingen

Nikol Paschinjans schwieriger Weg zum grundlegenden Systemwechsel
Platz der Republik

Tausende Demonstranten auf dem Platz der Republik forderten im Frühjahr einen Neuanfang

© FNF

Für Armenien beginnt eine neue historische Etappe, verkündete Nikol Paschinjan am 16. Oktober 2018, bevor er am Abend in einer TV-Ansprache seinen Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten bekannt gab. Damit will der Anführer der sogenannten samtenen Revolution Parlamentsneuwahlen im Dezember erzwingen. Groß sind die Hoffnungen der Bevölkerung auf einen grundlegenden Systemwechsel. Kann dies gelingen? Ein aktuelles Stimmungsbild des Landes und eine Zusammenfassung der Ereignisse der letzten Wochen und Monate vom Projektleiter der Stiftung für die Freiheit im Südkaukasus, Peter-Andreas Bochmann.

Regierungschef ohne Parlamentsmehrheit

Freie Wahlen und dies binnen eines Jahres versprach der Oppositionspolitiker und Anführer der sogenannten samtenen Revolution Nikol Paschinjan im Mai. Mit seinem Rückritt am 16. Oktober scheinen nun die Weichen dafür gestellt. Das Parlament muss jetzt gemäß armenischer Verfassung innerhalb von zwei Wochen einen Nachfolger wählen. Sollte dies auch im zweiten Anlauf nicht gelingen, wird das Parlament aufgelöst und Anfang Dezember könnten Neuwahlen stattfinden. Soweit der Plan, der aber auch ein Risiko in sich birgt. Paschinjans parlamentarische „Hausmacht“ beschränkt sich auf neun Abgeordnete des Parteienbündnisses EXIT (arm. YELK) von 105, wobei seine eigene Partei davon drei Abgeordnete stellt. Die Mehrheit der Abgeordneten wird von der Republikanischen Partei Armeniens (RPA) des ehemaligen Premiers Sersch Sargsjan gestellt und diese könnten theoretisch einen eigenen Kandidaten nominieren. Viele Beobachter halten dies für wenig wahrscheinlich. So auch der politische Analyst Stepan Grigoryan, Leiter des „Analytical Centre on Globalization and Regional Cooperation“ (ACGRC) mit Sitz in Eriwan: „Dieses Szenario kann man ausschließen. Dies würde die Bevölkerung als eine Art Konterrevolution empfinden und innerhalb weniger Minuten Hunderttausende von Menschen auf die Straße bringen, die protestieren und erneut das Land komplett lahm legen.“ Dass aber auch ein solches Szenario nicht ganz auszuschließen ist, zeigte ein Eklat vor zwei Wochen im armenischen Parlament. Auf einer außerordentlichen Sitzung beantragten drei Parteien unter Federführung der ehemaligen Regierungspartei eine Gesetzesänderung, die vorsieht, eine Auflösung des Parlaments zu erschweren und Neuwahlen nicht nach dem Procedere, wie es die Verfassung momentan vorsieht, stattfinden können. Und auch an diesem Tag zeigte sich erneut, dass Paschinjan die „Straße“ hinter sich hat. Über soziale Netzwerke rief er zum Protest auf und innerhalb einer knappen halben Stunde protestierten über 30.000 Menschen vor dem Parlament gegen diese geplante Änderung.

Auch wenn es vielen als unwahrscheinlich erscheint, dass dieser Antrag vom Präsidenten unterzeichnet und gegebenenfalls vom Verfassungsgericht bestätigt wird, zeigt dieses Ereignis einmal mehr das Dilemma von Nikol Paschinjan: Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung steht hinter ihm, sein politischer Einfluss hält sich in Grenzen und ohne eine parlamentarische Mehrheit sind politische Veränderungen kaum möglich.

Generalprobe: Bürgermeisterwahlen in Eriwan

Ein überragendes Wahlergebnis und damit eine parlamentarische Mehrheit wären ihm derzeit sicher, darin sind sich Beobachter einig. Dies zeigten die Wahlen zum Stadtparlament in Eriwan. Paschinjans neuer Wahlblock („My Step“ im Unterschied zu EXIT in nationalen Parlament) erzielte mit 81,06 Prozent einen Erdrutschsieg und wird künftig mit dem Schauspieler und Comedian Hayk Marutjan den Bürgermeister stellen. Weit abgeschlagen folgte die Partei Prosperous Armenia des Geschäftsmannes Gagik Tsarukjan mit knapp sieben Prozent. Die Republikanische Partei Armeniens stellte keinen Kandidaten. 

„Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben freie und faire Wahlen erlebt“, beurteilte die Junior-Projektkoordinatorin in Armenien der Stiftung für die Freiheit Eva Tovmasyan diese grundlegende Veränderung.

Die Partnerpartei der Stiftung, der Armenian National Congress (ANC), verzichtete auf die Teilnahme an den Wahlen in der Hauptstadt. Der eventuelle neue Stiftungs-Partner Bright Armenia Party (BAP), auf nationaler Ebene Teil des EXIT-Blocks, zog in Verbindung mit einer weiteren Partei als Block „Light“ mit drei Stadtverordneten in das Stadtparlament ein.

Kein Abkassieren am Straßenrand

Den subjektiven Eindruck einer Veränderung im Lande empfindet der Armenienreisende dieser Tage schon bei der Einreise: War die Passkontrolle in den vergangenen Jahren eine eher unfreundliche Angelegenheit, überraschten die Kontrolleure in ihren Uniformen im Sowjet-Design jetzt mit einem Lächeln und den Worten: Willkommen in Armenien! Auch die Fahrt vom armenischen-georgischen Grenzübergang in die Hauptstadt erscheint diesmal anders. Eine bei Georgien-Armenien-Pendlern bekannt-berüchtigte Kreuzung, kurz hinter der Grenze, an der in der Vergangenheit oft Autos mit ausländischen Kennzeichen gerne von der Polizei gestoppt und für was auch immer abkassiert wurden, ist diesmal mühelos passierbar. Auch auf der mehrstündigen Fahrt nach Eriwan diesmal kein Stopp wegen angeblicher oder tatsächlicher Geschwindigkeitsübertretung. Eine für die Polizei in der Vergangenheit sichere Einnahmequelle, deren Strafhöhe sich durchaus am Verhandlungsgeschick bzw. dem Bestehen auf eine ordnungsgemäße Quittung orientierte. Ein erster Erfolg im Kampf gegen Korruption, einem der Hauptziele von Nikol Paschinjan?

Demonstranten

Demonstranten prägten das Stadtbild Eriwans im Mai

© FNF

Selektive Korruptionsbekämpfung?

„Paschinjan muss schnellstens Neuwahlen abhalten und dann beginnen, das Land grundlegend umzukrempeln, damit die Stimmung nicht kippt“, sagt auch ein westlicher Diplomat, der bei aller Euphorie und Aufbruchstimmung im Land auch einige Bedenken äußert. „In meinen Augen hat Paschinjan bisher nichts falsch gemacht. Die Hoffnungen sind riesig. Aber wenn diese Hoffnungen enttäuscht werden und er scheitert, wird ein Massenexodus die Folge sein, von dem sich das Land auf absehbare Zeit nicht erholen wird.“ Er merkt auch an, dass einige Aktionen durchaus hinterfragt werden könnten. Es vergehe zwar keine Woche ohne spektakuläre Aufdeckung neuer Korruptionsfälle auf allen Ebenen, jedoch fehle es an einem Konzept zur strategischen Korruptionsbekämpfung. Es gibt Stimmen, dass diese Verfolgungen mitunter kein Zufall seien, da seien auch alte Rechnungen offen.


„Nikol kann sich nicht um alles kümmern, er braucht einen funktionierenden Apparat“, sagt der Inhaber eines Schnellrestaurants im Zentrum Eriwans, der bei allen Demonstrationen auf dem Platz der Republik dabei war. Auch seine Hoffnungen sind groß, künftig nicht mehr „Gebühren“ unklarer Art entrichten zu müssen und seine Waren nicht mehr bei „empfohlenen“ Lieferanten bestellen zu müssen. Aber auch er gibt zu bedenken, dass die Korruption in Armenien zu tief verwurzelt ist, um sie kurzfristig beseitigen zu können: „Dies könnte eine Generation dauern.“ Er habe aber trotzdem die Hoffnung, dass bald das System ausgetauscht wird und nicht nur die Gewinner.

Schwierige Herausforderungen

Es sind schwierige Herausforderungen vor denen Nikol Paschinjan steht. Allen voran die Wiederherstellung des Vertrauens in die Politik. Zu lange erlebte die in großen Teilen verarmte armenische Bevölkerung ein um sich greifendes nepotistisches System von Oligopolen und seiner Verflechtung von Politik, Wirtschaft, Korruption. Wer das Land nicht verließ, resignierte. Stimmenkauf bei Wahlen und Referenden wurden fast als „normal“ empfunden, Manipulationen bei Abstimmungen nur von wenigen hinterfragt. Wer am Existenzminimum lebt, versuchte seine Stimme möglichst teuer zu verkaufen. Große breitschultrige Männer, gerne in schwarzen Lederjacken und mit Sonnenbrillen zeigten Präsenz vor den Abstimmungslokalen und wiesen bekannte Aktivisten schon mal „handfest“ in ihre Schranken. Auch die Stiftung für die Freiheit konnte Einschüchterungen und die verschiedenen Mechanismen des Stimmenkaufs mehrfach in aller Öffentlichkeit bei ihrer Mission als Wahlbeobachter feststellen. Dass diese Zeiten vorbei zu scheinen sein, zeigte die Bürgermeisterwahl in Eriwan. Auch hat Nikol Paschinjan ein Komitee ins Leben gerufen, dass intensiv an einer Neuauflage des Wahlgesetzes arbeitet. Verstöße gegen das Wahlgesetz sollen künftig stärker bestraft werden. Wurden bisher – wenn überhaupt – Vergehen mit Geldstrafe geahndet, drohen nach den geplanten Änderungen künftig Gefängnis und ein sofortiges operatives Eingreifen der Polizei soll möglich sein.

Eine weitere Herausforderung ist die Bekämpfung des Machtmissbrauchs zur Durchsetzung von wirtschaftlichen Interessen. Auch hier scheint es erste Erfolge zu geben, berichtet ein NGO-Vertreter. So seien beispielsweise eine Reihe von „Bodyguards“ von Oligarchen verhaftet worden, die maßgeblich dieses System getragen und durchgesetzt haben sollen. Wirtschaftsvertreter berichten, dass die früher bestehenden Import-Monopole einiger Personen und Familien jetzt überwindbar sind und immer mehr ausländische Investoren angezogen werden und auch verstärkt Kapital der großen armenischen Diaspora ins Land kommt.

Die nächsten Tage, Wochen, Monate werden spannend in Armenien. Wird es zur Auflösung des Parlaments und dann zu Neuwahlen im Dezember kommen? Wird Russland sich weiterhin zurückhaltend verhalten? Armenien und ein möglicherweise im Dezember erstmals frei gewählter Ministerpräsident Nikol Paschinjan steht vor einem Berg von zu bewältigenden Aufgaben und Herausforderungen - innen- und außenpolitisch. Es ist dem Land zu wünschen, dass es gelingt, diese zu bewältigen.

Peter-Andreas Bochmann ist Projektleiter der Stiftung für die Freiheit für den Südkaukasus.

Götz-Martin Rosin ist Journalist bei der Kaukasischen Post