Europawahlen
Auf Lagarde wartet die geldpolitische Unterwelt
Dieser Artikel erschien erstmalig am 04. Juli 2019 auf Welt.de
Christine Lagarde soll’s richten: Nichts weniger als die Quadratur des Kreises soll sie schaffen. Denn auf die wahrscheinliche Nachfolgerin von Mario Draghi an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) warten nahezu unlösbare Aufgaben. Sie soll zum einen „die Preisstabilität gewährleisten“; so lautet das vorrangige Ziel der EZB-Politik, wie es die EU-Verträge explizit und unmissverständlich vorgeben.
Gleichzeitig soll sie aber auch „das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme fördern“ und sicherstellen, so, wie es an anderer Stelle der EU-Verträge ebenso eindeutig gefordert wird. Es ist ein geldpolitischer Spagat angesichts des Geburtsfehlers des Euro: Die Väter der gemeinsamen Währung haben zwar eine Währungsunion geschaffen, aber es gibt bis heute keine gemeinsame Fiskalunion. Diese problematische Konstellation machte bereits den bisherigen Präsidenten der EZB mehr zu schaffen, als es ihnen lieb sein konnte.
Das Problem, mit dem die Zentralbanker kämpfen, ist eine neue volkswirtschaftliche Realität: Die Gründungsväter der Europäischen Währungsunion wollten mit den Regeln, die sie dem gemeinsamen Währungsraum gegeben haben, ausschließen, dass als Folge einer expansiven Geldpolitik mit tiefen Zinsen und billigem Geld die Preise zu stark steigen, was zu all den sattsam bekannten Kosten der Inflation führen würde.
Die geldpolitischen Risiken für den Euro-Raum haben sich allerdings in den vergangenen Jahren ins komplette Gegenteil verkehrt. Seit der Finanzmarktkrise und verstärkt seit der Staatsschuldenkrise zu Anfang des laufenden Jahrzehnts droht in der Europäischen Währungsunion eine Deflation. Solch eine Entwicklung mit sinkenden Preisen wäre insbesondere für Schuldner brandgefährlich, weil sie zu steigender realer Zinslast führt, die in Überschuldung, Konkurs und Ruin münden kann – so, wie es historisch in Zeiten großer Depressionen der Fall war.
Hierzulande scheint das im Moment ein abstraktes Szenario: In Deutschland schimpfen die Sparer darüber, dass die von der EZB zur günstigen Refinanzierung alter Staatsschulden abgesenkten Zinsen – vornehmlich um eine Illiquidität südeuropäischer Mitgliedstaaten zu verhindern und weniger um deren Insolvenz abzuwenden – bei den Ersparnissen zu geringen oder gar keinen Renditen mehr führten.
Das würde die Vorsorge für das Alter oder schlechtere Tage erschweren oder gar verhindern. So verständlich die Klage beim ersten Hören klingt, so sehr geht dabei vergessen, dass allein schon sinkende Preise für Konsumgüter zu steigender Kaufkraft und damit einer realen Rendite für Ersparnisse und Renten führen.
Monetäre Theorie hilft nicht weiter
Auf Christine Lagarde wartet nun die heroische Herausforderung eines Ausstiegs aus der Negativzinspolitik, in die ihre Vorgänger die europäische Geldpolitik geführt haben. Orpheus gleich, soll sie in den geldpolitischen Hades hinabsteigen, um den Euro aus der Unterwelt von Negativzinsen herauszuführen.
Und wie für den berühmten Sänger Orpheus gibt es für eine neue Präsidentin der EZB kein Vorbild, keine Blaupause und damit auch keinen belastbaren Plan, wie sich dieses Abenteuer erfolgreich gestalten lässt.
Und es ist nicht nur die praktische Erfahrung aus früheren Zeiten, die fehlt. Auch die monetäre Theorie hilft nicht weiter. Denn die geldpolitischen Transmissionskanäle in einer global hochgradig verflochtenen Weltwirtschaft mit freiem Kapitalverkehr und disruptiven Transformationsprozessen folgen anderen Mechanismen als den Grundgesetzen des Monetarismus, die sich stärker an geschlossenen Volkswirtschaften in Gleichgewichtszuständen orientieren.
Insbesondere der über Generationen geltende starre Zusammenhang, wonach eine extrem stark wachsende Geldmenge auch zu steigenden Preisniveaus – also höherer Inflation – führen muss, gilt ganz offensichtlich nicht mehr.
Die Notenbankgeldmengen haben sich in den letzten Jahren in nahezu allen Wirtschaftsregionen vervielfacht, und trotzdem ist nirgendwo in der westlichen Welt (und bei stabilen politischen Verhältnissen) ein starker Preisanstieg zu vermerken.
Ganz offensichtlich haben es erst die Globalisierung und nun die Digitalisierung geschafft, dass mehr Wachstum nicht zu steigenden Löhnen und dadurch steigenden Preisen führt. In der heutigen Zeit der engen internationalen Vernetzung scheint irgendwo auf der Welt irgendwer immer bereit, Güter und Dienstleistungen ohne Mehrkosten für die Käufer herzustellen.
Die Personalie ist fast egal
Es ist kaum entscheidend, ob die neue EZB-Präsidentin aus Deutschland oder Frankreich kommt und ob es tatsächlich Christine Lagarde oder jemand anders werden wird – die Personalie allein ändert rein gar nichts daran, dass die Geldpolitik der EZB nach einem neuen überzeugenden Paradigma suchen muss, das im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung funktioniert.
Noch ist nicht einmal in Ansätzen erkennbar, wie eine den kommenden Herausforderungen gerecht werdende Geldpolitik in einer Währungsunion ohne Fiskalunion auszugestalten sein wird. Sicher dürfte nur sein, dass die EZB-Leitzinsen noch sehr lange auf sehr niedrigem – und vorerst auch negativem Niveau – verharren dürften.
Daran wird kein EZB-Präsident viel ändern können; auch Christine Lagarde nicht, selbst wenn sie wollte. Deshalb ist die gegenwärtige Diskussion über die Personalie Christine Lagarde auch völlig verfehlt: Es geht nicht darum, wer EZB-Präsident wird; es geht darum, wie die Zukunft der europäischen Geldpolitik aussehen sollte.