Bulgarien übernimmt in stürmischen Zeiten das Ruder
Seit der ersten Januar-Woche prangen die bulgarischen Landesfarben am Justus-Lipsius-Gebäude in Brüssel, dem Sitz des Rates der Europäischen Union. Der Balkanstaat übernimmt für sechs Monate und erstmals in seiner Geschichte den rotierenden Vorsitz im EU-Ministerrat; und gleich bei ihrem Debut werden die bulgarischen Vertreter eine Führungsrolle bei Entscheidungen zu heiklen Themen wie dem Brexit oder dem mehrjährigen Haushaltsplan wahrnehmen müssen. Beobachter sehen in der bulgarischen Präsidentschaft besondere Chancen und Risiken.
Eigentlich ist es eine Ironie der Geschichte, dass Bulgarien ausgerechnet jetzt erstmals die EU-Ratspräsidentschaft zufällt. Das Land hatte während des Kosovo-Konflikts 1999 den Luftstreitkräften der NATO seinen Luftraum zur Verfügung gestellt. Der ehemalige britische Premierminister Tony Blair belohnte diese Unterstützung, indem er sich erfolgreich für die Aufnahme Bulgariens in die EU einsetzte. Heute, elf Jahre nach seinem Beitritt, wird Bulgarien den Austritt des einstigen Fürsprechers aus der EU in leitender Funktion mitverhandeln müssen.
Aus dem vermutlich bevorstehenden Austritt des Vereinigten Königreichs leiten die Verantwortlichen in Sofia eine ihrer Prioritäten ab: Zusammenhalt unter den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten. Dieser ist aktuell labil, etwa durch Rechtsstaatsverletzungen in Polen und Ungarn, die zähen Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen (den EU-Haushalt 2020-2026) und den fortbestehenden Dissens in Fragen der Finanz- und Migrationspolitik. Beobachter in Brüssel bezweifeln allerdings, dass Bulgarien bei der Lösung dieser Probleme mehr als eine moderierende Rolle spielen kann. Ein positives Signal im Sinne des Zusammenhaltes setzte Bulgarien jedoch im Dezember, als es der Verlängerung der EU-Sanktionen gegen Russland im Zuge des Ukraine-Konflikts zustimmte. Bulgarien unterhält traditionell enge Beziehungen zu Russland und hätte mit einem Veto im Ministerrat das Sanktionsregime zum Einsturz bringen können.
Hohe Glaubwürdigkeit genießt Bulgarien bei den anderen drei Prioritäten seiner Ratspräsidentschaft. Erstens möchte es die Beziehungen zwischen der EU und den Staaten des Westbalkans verbessern und die stockenden Gespräche mit den potentiellen und vollwertigen Beitrittskandidaten wiederbeleben. Europaministerin Lily Pavlova wünscht sich sogar, dass „wir eine Balkanpräsidentschaft werden“. Als Balkanstaat und eines der jüngsten EU-Mitglieder gilt Bulgarien in Brüssel als vielversprechender Vermittler zwischen den bestehenden EU-Mitgliedern und dem Westbalkan.
Zweitens soll die bereits von der estnischen Ratspräsidentschaft priorisierte Digitalagenda weitergeführt werden. Hier geht es vorrangig um die Vollendung des digitalen Binnenmarktes und die Förderung von digitaler Bildung in Europa. Sofia hat in diesem Bereich selbst beachtliche Fortschritte vorzuweisen und stellt mit Mariya Gabriel außerdem seit letztem Jahr die EU-Kommissarin für digitale Wirtschaft.
Drittens ist Sofia an der Weiterentwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) gelegen. Als EU-Mitglied mit einer langen Außengrenze zur Türkei und zum Schwarzen Meer hat Bulgarien insbesondere ein nachvollziehbares Eigeninteresse daran, gemeinschaftliche Lösungen für die Grenzsicherung und die Verteilung Geflüchteter zu finden.
Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, verband eine seiner ersten Reden im neuen Jahr mit den Worten: „Die Hauptstadt Europas heißt in den nächsten sechs Monaten Sofia.“ Mit dieser Aussage unterstrich er die Hoffnung auf gute Zusammenarbeit, denn die Regierung Bulgariens bereitet der Kommission grundsätzlich weniger Probleme als andere Länder: Sie versucht nicht, den Rechtsstaat systematisch abzubauen; sie stellt sich bei der Verteilung von Asylbewerbern und Kriegsflüchtlingen nicht quer und kann einen der solidesten Haushalte in der ganzen EU vorweisen.
Einen dunklen Schatten auf die erste Ratspräsidentschaft Bulgariens wirft jedoch das massive Ausmaß von organisierter Kriminalität und Korruption. In den vergangenen 25 Jahren kam es in dem Land zu über 150 Auftragsmorden, von denen nur wenige aufgeklärt werden konnten. Laut Transparency International ist Bulgarien außerdem das korrupteste Land Europas. Aus politischer Sicht alarmierend ist die Regierungsbeteiligung des fremdenfeindlichen Wahlbündnisses Vereinigte Patrioten. Dieses hatte bei den Parlamentswahlen letztes Jahr knapp 10 Prozent der Stimmen erhalten und stellt seitdem mehrere Minister in der Regierung von Premier Boyko Borissov, unter anderem den Vize-Premier Valeri Simeonov, der schon mehrmals durch hetzende und menschenfeindliche Parolen gegenüber der Roma-Minderheit aufgefallen ist. Die liberale tschechische Kommissarin für Justiz, Vera Jourová, äußerte sich darüber „beunruhigt“ und kündigte deshalb an, die bulgarische Regierung genau beobachten zu wollen.
Es bleibt zu hoffen, dass die innenpolitischen Probleme Sofias den Erfolg der Ratspräsidentschaft nicht beeinträchtigen und dass Bulgarien seine Identität als Balkanstaat im Sinne engerer Beziehungen der EU zu den Staaten auf dem Westbalkan wirkungsvoll in die Waagschale werfen kann. Jean-Claude-Juncker wird vielleicht froh sein, dass Bulgarien nun erstmal das Ruder im Justus-Lipsius-Gebäude übernommen hat. Denn im Juli stehen schon Sebastian Kurz und Hans-Christian Strache, das rechts-konservative Duo aus Österreich, für den Wachwechsel bereit.
Sebastian Vagt ist European Affairs Manager der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel