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Es wird keinen zweiten Verrat an Demokratie und Freiheit in Deutschland geben, denn Geschichte wiederholt sich doch nicht

Veranstaltung: „Russlands Zukunft im Exil? Die Rolle der Opposition jenseits der Grenzen“

Veranstaltung: „Russlands Zukunft im Exil? Die Rolle der Opposition jenseits der Grenzen“

© Frank Nürnberger

Die mit rund 200 Teilnehmern an einem Freitagabend erfreulich gut besuchte Veranstaltung: „Russlands Zukunft im Exil? Die Rolle der Opposition jenseits der Grenzen“ am Potsdamer Platz wurde von der Leiterin des FNF-Russlandprojektes Ute Kochlowski-Kadjaia moderiert. Zu Beginn der Veranstaltung steht ein wortgewaltiger Vortrag von Prof. Karl Schlögel. Der Rapallo-Vertrag von 1922 markiert den Beginn eines Versuchs, die Niederlage des 1. Weltkrieges und die Regelungen des Versailler Vertrages zu überwinden, indem die Weimarer Republik eine Annäherung und Verbrüderung mit dem totalitären Sowjetrussland gesucht hat. Für die deutsche Demokratie und für Deutschlands Verhältnis zu seinen Nachbarn bringt dieser Versuch aber letztlich nur Unheil, weil der Geist des Revanchismus und des Revisionismus von Beginn an dabei war. Prof. Karl Schlögel geht in seinem Eröffnungsvortrag darauf ein und schildert dramatische Schicksale einiger der russischen Diaspora-Persönlichkeiten 1922-45.

Das ehrliche Angebot der heutigen russischen Oppositionellen ans Exilland Deutschland steht

Die vielen anwesenden Oppositionellen im Exil signalisieren in aller Deutlichkeit, selbst als vielseitig einsetzbares, starkes Abwehrmittel im Dienste des deutschen Gastgeberlandes verstanden und genutzt werden zu wollen. Sie verweisen zum einen auf das weltweite Bedrohungspotenzial, das von Putins Russland gegenüber liberal-demokratischen Staaten ausgeht. Zum anderen machen sie auf die gewachsene Achse antidemokratischer Autokraten aufmerksam, die sich inzwischen von Peking über Pjöngjang, Teheran, Moskau, Belgrad, Bratislava und Budapest bis ins Weiße Haus zu erstrecken scheint.

Die Vertreter der Zivilgesellschaft, Kultur und Politik auf dem Panel wurden durch Putins Diktatur und ihre klare Protesthaltung gegen die russische Invasion der Ukraine aus ihrer Heimat vertrieben. Sie unterstreichen vor allem ihre tiefe Betroffenheit über die russischen Kriegsverbrechen sowie ihre große Dankbarkeit für die Aufnahmebereitschaft und aufrichtige Unterstützung Deutschlands für das ukrainische Volk. Gleichzeitig bedanken sie sich für die Hilfe, die gegenüber ihnen, den russischen Dissidenten, geleistet wird.

UP for Democracy gilt auch für die aus Russland verbannten Partner des ehemals Moskauer FNF-Projektbüros

Die russischen FNF-Partner Elena Zhemkova (Memorial Zukunft e.V.) Alexander Gavrilov (Publizist und Verleger) und Andrei Pivovarov (oppositioneller Politiker) stellen dem „kollektiven“ Westen exemplarisch für Tausende geflüchtete Aktivisten ihren ungebrochenen Kampfgeist und das gesammelte Knowhow aus der Erfahrung des eigenen Scheiterns in Moskau oder St. Petersburg zur Verfügung.

Ohne Angst vor auch außerhalb Russlands möglicher Bedrohung durch russische Geheimdienste entwickeln und verwenden diese exilierten Putin-Gegner Techniken und Wege, um Pro-Frieden- bzw. Pro-Demokratie-Widerstand in ihrer Heimat zu fördern. So setzt beispielsweise der im August 2024 bei einem Gefangenenaustausch abgeschobene liberale Oppositionspolitiker Pivovarov vor allem auf die inzwischen gut aufgestellten Exil-Medien als Brücke, um geknechteten Gleichgesinnten in Russland Mut zu machen und Putins Regime anzugreifen. Publizisten und Verleger wie Gavrilow schaffen es, von Putins Zensur verbannte Inhalte (Literatur und Lyrik) zu veröffentlichen und weltweit zu verbreiten. Dabei erscheinen auch Bücher, die Mord und Folter an Häftlingen russischer Gefängnisse mithilfe herausgeschmuggelter Beweismittel dokumentieren, z.B. „Trojan – der GULAG unserer Zeit“ von dem Belarussen Sergei Savelev, einem willkürlich in Russland festgesetzten Strafkolonie-Insassen, dem die Flucht gelang.

Bücher dieser Art sorgen einerseits für Gewissensbisse und Aufruhr innerhalb der gleichgeschalteten russischen Gesellschaft. Andererseits sind ihre Botschaften als Warnung an uns zu begreifen. Sie sollen all diejenigen warnen, die sich vielleicht in Deutschland und Europa nach starken Führern, wie Putin, mit absoluten Vollmachten sehnen beziehungsweise nach schnellem Lösungsangebot für alle Probleme der Gegenwart. Sie können diejenigen warnen, die unsere demokratischen Strukturen mit den nötigen Checks and Balances als lästig empfinden und die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht zu schätzen wissen. Denn sie zeigen auf, wie Menschen ohne Demokratie und Freiheit leben und leiden müssen.

Das internationale Netzwerk der Zeugnisbewahrung und Erinnerung an die Diktaturverbrechen des Totalitarismus Memorial, auf dem Podium durch Elena Zhemkova vertreten, gibt ebenfalls nicht auf. Die weltweit vergebenen Preise und Auszeichnungen, inklusive Friedensnobelpreis 2022, an diese Organisation sind Ansporn und Verpflichtung zugleich, um Kinder und Jugendliche im postsowjetischen Raum an die Opfer des Stalinismus zu erinnern und sie gegen den russischen Imperialismus zu immunisieren. Auch Memorial veröffentlicht Bücher, die schon mithilfe der Titel (z.B. „Erinnern ist Widerstand“) klar die Ziele der Organisation definieren. Trotz regelmäßiger Übergriffe von Putins Schergen werden selbst die in Russland abgerissenen und zerstörten Namensschilder an den Häusern der letzten Anschrift von Opfern sowjetischer Gewaltherrschaft von Memorial-Unterstützern heimlich ersetzt und dort wieder angebracht. In Deutschlands Schulen bietet Memorial an, Putins Verbrechen, dessen ganze gemeine Lügenwelt, zusammen mit den Jugendlichen zu analysieren, beispielsweise anhand des Tucker Carlson-Interviews, damit diese verstehen lernen, warum ihre Eltern mit ihnen zusammen ins Exil gehen mussten.

Was wird los sein, wenn die Russen unter noch schlimmeren Bedingungen dahinvegetieren müssen sollten, als es heute schon in der Provinz der Fall ist?

Das vielfältige Betätigungsfeld der verbannten russischen Putin-Gegner ist mühsam und kann angesichts des Elends und der unwiderruflichen Opfer, die Russland täglich verursacht, als kaum wahrnehmbar erachtet werden. Dem ist aber nicht so!
In dem Kriegstreiberland selbst erreichen die Exil-Medien auf Russisch bis zu 20 Mio. Menschen täglich mit ihren Botschaften. Etwa sieben Prozent der russischen Bevölkerung bekennen sich immer noch klar zu der Sehnsucht nach einer liberaldemokratischen Zukunft für ihr Land. Für solche Bekenntnisse wird man oft im Morgengrauen aus der eigenen Wohnung von einem Sondereinsatzkommando abgeführt und verschwindet im neuen Gulag. Seit Stalins Zeiten gab es nicht mehr so viele politisch Verfolgte in Russland wie heute. Die große schweigende Masse der Bevölkerung arrangiert sich zwar mit dem totalitären System, versucht wenigstens nicht negativ aufzufallen oder sogar davon zu profitieren. Laut Pivovarov wissen aber selbst die russischen Gefängnisaufseher – und scheuen sich nicht dies auszusprechen –, dass die Propagandastaatsmedien nur noch Lügen verbreiten. Die Zahl der wirklichen Diktaturbefürworter dürfte bei ca. 30 % der Bevölkerung liegen. Alle anderen schwimmen derzeit mit dem Strom und versuchen darin nicht unterzugehen.

Was würde aber wirklich passieren, wenn eines Tages die Waffen schweigen und der „Sieg über den Westen“ seitens des offiziellen Kremls verkündet werden würde, unabhängig davon, wie der Krieg tatsächlich ausgegangen ist. Was, wenn die „Sieger“ aber wegen der leergefegten Staatskassen nicht die erhoffte Belohnung für ihren „heldenhaften“ Einsatz beim Morden in der Ukraine bekommen? Dieser Moment könnte entscheidend dafür werden, um eine Bresche in Putins „Einheitsfront“ zu schlagen, darin sind sich die Panelisten einig. Eine Katerstimmung nach einem solchen „Sieg“ kommt unausweichlich, weil die Ressourcen dann verbraucht sein werden und sich keine Siegeseuphorie durch Propaganda mehr erzeugen lässt – dies ist die Hoffnung der Dissidenten. Darauf weisen die unabhängigen Exil-Medien schon heute die russische Bevölkerung hin. Die oppositionellen Aktivisten bereiten emsig ihre Hundert-Tage-Danach-Aktionspläne vor.

Prof. Karl Schlögel fordert eine klare Haltung seitens deutscher Verantwortlichen

Laut dem Berliner Osteuropahistoriker müssen auch wir in Deutschland, gerade jetzt, wegen Russlands Aggressionsbereitschaft sowie zwecks Findung der richtigen Strategie für den weiteren Umgang mit dem Kreml dringend klare Beschlüsse fassen. Schlögel ermahnt, im liberaldemokratischen Westen endlich dafür zu sorgen, dass die existierenden Putin-Vorsteher-Netzwerke und Embargobrecher an den strategischen Entscheidungen zu der zukünftigen Russlandpolitik nicht länger beteiligt werden dürfen. Mit der Werte-Verpflichtung und Standhaftigkeit der liberalen Demokratien an der Seite der Ukrainer, die für unsere gemeinsame Zukunft kämpfen, eröffnet sich eines Tages gewiss die Chance auf ein starkes Comeback der regelbasierten Bündnisse – auch wenn diese aktuell geschwächt wirken oder so dargestellt werden. Die Option, Autokratie und Totalitarismus zurückzudrängen, besteht zweifelsohne – wenn Bürgerinnen und Bürger weltweit ehrlich mit den Realitäten konfrontiert und populistische Lügengebilde aus Moskau, Peking und womöglich sogar aus Trumps Oval Office konsequent entlarvt und widerlegt werden.

Weder die Ukraine noch die neue russische Exil-Community, die vor Putins Regime erst in die Freiheit floh, muss heute ein zweites Rapallo fürchten

Russlands heutiger Außenminister ist kein sowjetischer Volkskommissar des Äußeren, und das heutige Deutschland verhandelt nicht über die Köpfe und Interessen anderer Völker hinweg. Durch die gemeinsame Anstrengung aller Demokraten wird der Flaschengeist des Totalitarismus gewiss aufgehalten. Zu Recht betont Pivovarov in diesem Zusammenhang, dass niemand es vermag, beispielsweise den überwiegend aus Kasachstan eingewanderten Spätaussiedlern besser die Augen zu öffnen, als die politisch Verfolgten der letzten russischen Fluchtwelle. Gerade die russischsprachigen Migranten der 90er, die in der Umbruchszeit der UdSSR-Auflösung nach Deutschland kamen, wurden anschließend durch die russische Staatsmedien-Propaganda 25 Jahre lang aus dem deutschen TV-Kabelnetz mit der imperialen Idee der „Russischen Welt“ (russkij mir) gespeist und verseucht. Einige von ihnen neigen jetzt als deutsche Staatsangehörige dazu, die von Putins Regime offen favorisierte und beworbene AfD zu wählen.

Dagegen kann und muss die Expertise der exilierten Russinnen und Russen von der Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik in Deutschland berücksichtigt und klug angewendet werden. Es gilt umso mehr, wenn der Alptraum an der EU-Ostflanke nicht endlos weitergehen soll. Allerdings auch um der Wahrheit, der Gerechtigkeit und dem für alle gleichermaßen geltenden Völkerrecht zum Siege zu verhelfen, wird es auf diese Unterstützung ankommen. Angesichts anschließend gestellter Fragen hat das sehr interessierte FNF-Publikum die Botschaften aus dem Schlögel-Vortrag und der Experten-Diskussion zweifelsohne richtig verstanden. Weder die Ukraine noch die neue russische Exil-Community, die vor Putins Regime im 21. Jh. floh, muss heute ein zweites Rapallo fürchten. Aber alle müssen wachsam bleiben.

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