EN

Rechtsextremismus
Eine nachhaltige Erschütterung für die Republik

Nach Chemnitz sind alle gefordert – jetzt kommt es darauf an, die Stimme zu erheben
Menschen erschüttert

Die Vorkommnisse in Chemnitz werden uns noch lange beschäftigen

© B&M Noskowski / E+ / Getty Images

Diese Woche hat die Republik erschüttert. Die Bilder von Rechtsextremen, die Menschen in Chemnitz jagen, werden sich tief in das Gedächtnis unseres Landes graben. Die pogromartigen Szenen verstören nicht nur. Sie verstärken auch den Eindruck, dass unsere liberale Demokratie gefährdet ist. 

Der Rechtsstaat ist besonders dann gefordert und in Gefahr, wenn Bürger meinen, das von ihnen propagierte Recht selbst in die Hand nehmen zu müssen. Das Gewaltmonopol des Staates gilt in jeder Situation, in der die Rechtsordnung und die freiheitliche demokratische Grundordnung angegriffen oder bewusst negiert werden. Selbstjustiz ist etwas für Westernfilme alten Stils, aber nichts für den demokratisch verfassten Rechtsstaat. Justiz und Sicherheitsbehörden verkörpern den Rechtsstaat – ihr Versagen geht an seine Substanz. Da gibt es kein Schönreden, da geht es um schnelle Fehleranalyse und entschlossenes Handeln. Beides lässt in Sachsen zu wünschen übrig.

Der Rechtsstaat kann nicht funktionieren, wenn die Werte des Grundgesetzes nicht geteilt und gelebt werden. Dreh- und Angelpunkt unserer Werteordnung ist Art. 1 des Grundgesetzes: Der universelle Schutz der Menschenwürde gilt unabdingbar, ohne Wenn und Aber. Leider sind die gewalttätigen Chemnitzer Übergriffe nur die Spitze des Eisbergs. Wie sieht es mit Rassismus im Alltag aus? Werden Menschen mit Migrationshintergrund im Alltag anders behandelt – bei Vermietungen, im Supermarkt oder in der Straßenbahn? Bürger mit Migrationshintergrund berichten davon. Auch von der Erfahrung, dass es Plätze oder Orte gibt, an denen sie sich nicht mehr sicher fühlen. Wie kommt es, dass auf einer Pegida-Demonstration skandiert wird: „Absaufen, absaufen, absaufen“. Und damit die Flüchtlinge im Mittelmeer gemeint sind? Dieser schlaglichtartigen Betrachtung ließe sich noch vieles hinzufügen. Zum Beispiel ein kritischer Medienblick, der beklagt, dass oft die Probleme in den Fokusgenommen werden, aber immer weniger auch die gelungenen Integrationserfolge, gerade auch von geflüchteten Syrern. Trauriger Höhepunkt war diese Woche auch eine Attacke auf einen Flüchtling, der krankenhausreif geschlagen wurde.

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Inhalt ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Die Radikalität, die Menschen entgegenschlägt, die anders aussehen oder vermeintlich fremd wirken, nimmt immer weiter zu – und sie wird von einer ungemein erfolgreichen rechtspopulistischen Partei befördert. Täglich hetzt und schürt sie Vorurteile gegen das vermeintlich Fremde und Andere. Getragen von einer Welle des Erfolgs hat sich das politische Klima in Deutschland verändert. Fast alle Parteien diskutieren Migration nur noch im Kontext von Abschottung. Weniger ist mehr – so könnte die große, informelle Koalition genannt werden. Sie unterstellt damit, dass weniger Flüchtlinge zu weniger Problemen in unserem Land führen würden. Als ob der kausale Zusammenhang so einfach wäre. 

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Im Moment muss man wohl auch festhalten: ein überfordertes Einwanderungsland. Länder und Kommunen werden bei dem Kraftakt einer nachholenden Integration fast alleine gelassen. Investitionen in Bildung verheddern sich im Gestrüpp einer monströsen Bürokratie. Und selbst gut integrierte Flüchtlinge, die am Arbeitsmarkt gebraucht werden, müssen immer wieder das Land verlassen. Eine nachvollziehbare, sinnvolle Einwanderungs- und Integrationspolitik scheint 2018 entfernter denn je. Taugen diese politischen Probleme zur Erklärung einer um sich greifenden Fremdenfeindlichkeit?

Jeder Bürger ist verantwortlich

Wohl kaum. Für das eigene Verhalten ist jede Bürgerin und jeder Bürger selbst verantwortlich. Wer zusammen mit Rechtsextremen demonstriert, die den Hitlergruß zeigen, nimmt sich selbst aus dem politischen Diskurs. Politik setzt auf Diskussionen und Lösungen, nicht auf Gewalt und Krawall. Umso peinlicher sind die Beschwichtigungsversuche aus der sächsischen Politik. Es gab Sonntag und Montag offenkundiges Staatsversagen. Der Mob konnte Menschen in Chemnitz in Angst und Schrecken versetzen. Die Polizei war überfordert und ließ rechtsfreie Räume zu. Die Antwort darauf kann aber nicht lauten: Die anderen sind schuld, „die Politiker“ sollen es richten. 

Die Antwort kann nur lauten: Wir sind schuld. Wir Bürger lassen es zu, dass immer mehr Fremdenfeindlichkeit in der Mitte der Gesellschaft laut wird. Wir müssen uns mehr einmischen, jeder von uns. Jeder Einzelne muss Flagge zeigen – im Alltag, im Freundes- und Verwandtschaftskreis. Wenn ein Bekannter nicht zu einem Bäcker gehen will, weil dort die Verkäuferin ein Kopftuch trägt. Bekommt man so etwas mit, heißt es: Widersprechen. Wenn jemand in der Straßenbahn pöbelt, weil ein Kind anders aussieht: Einmischen. Wenn der Onkel über syrische Flüchtlinge hetzt und sagt, die seien alle Verbrecher: Gegenhalten. 

Art. 1 GG verpflichtet jeden einzelnen von uns, aktiv für unsere Werte einzutreten. Jetzt kommt es darauf an, die Stimme zu erheben. Und jetzt ist nicht die Zeit, Chemnitzer oder Sachsen oder irgendwen anders pauschal als fremdenfeindlich zu bezeichnen. Die Gefahr, dass der rechte Rand unsere Gesellschaft zerfrisst, gilt in ganz Deutschland. Wir sind die Mehrheit, weil wir unsere offene Gesellschaft verteidigen. Wir sind die Mehrheit, weil wir unsere liberale Demokratie schätzen – trotz aller Probleme. Dafür suchen wir Lösungen. Wir sind die Mehrheit, weil wir es eben nicht zulassen, dass fremdenfeindliche Gewalt Alltag wird.