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Europa
Europäischer Rat ficht Scheingefechte aus

Ein Kommentar zu den Ergebnissen des EU-Gipfeltreffens von Markus Kaiser
Abschottung

Europa will sich abschotten - mal wieder

© GettyImages/AlxeyPnferov

Um halb fünf Uhr morgens vermeldeten die Pressesprecher des Europäischen Rates Vollzug: Eine Einigung zwischen allen 28 EU-Staaten sei erzielt. So mancher Beobachter rieb sich danach verwundert die Augen, und das nicht allein aufgrund der nachtschlafenden Zeit.

„Wir haben zwar kein Problem, dafür aber eine Lösung!“ – so könnte man das zur Schicksalsfrage erhobene Ergebnis des Europäischen Rates von dieser Nacht zusammenfassen.

Während in der ersten Jahreshälfte 2018 nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) lediglich 50.000 Menschen das Mittelmeer oder die Landgrenze zwischen der EU und der Türkei überquerten, nutzten Populisten aller Herren Länder den EU-Gipfel, um einmal mehr den starken Mann zu markieren. Verglichen mit der Anzahl an Flüchtlingen zur Hochzeit der Krise in den Jahren 2015 und 2016 sind die aktuellen Zahlen verschwindend gering; auch die Zahl neu gestellter Asylanträge in Deutschland und der EU ist insgesamt stark rückläufig. Kein Grund zur Panik eigentlich.

Liberale wie der luxemburgische Premierminister Xavier Bettel wurden deshalb nicht müde zu erwähnen, dass ein kurzer Blick auf die Statistik genüge um zu sehen, dass Gemeinschaftsmaßnahmen wie die verstärkte Kontrolle der EU-Außengrenzen durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex und die Schließung der Balkanroute ausreichend seien. Allen Fakten zum Trotz beschlossen die Staats- und Regierungschefs dennoch, die EU-Kommission damit zu beauftragen, Konzepte für so genannte „Anlandeplattformen“ in Nordafrika zu entwerfen. Dort sollen im Mittelmeer aufgegriffene Bootsflüchtlinge für eine noch zu bestimmende Dauer interniert werden.

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Es ist bemerkenswert, dass eben jene EU-Kommission erst vor vier Tagen im Nachgang zum „Mini-Migrationsgipfel“ hatte verlautbaren lassen, dass Flüchtlingszentren vor den Toren der EU illegal seien, da sie gegen EU- und internationales Recht verstießen. Wie so häufig schoben die Mitgliedsstaaten mit ihrem Arbeitsauftrag den Schwarzen Peter der Kommission zu, die nun Vorschläge entwickeln soll, deren Rechtmäßigkeit sie selbst anzweifelt.

Löblich hingegen ist, dass die Staats- und Regierungschefs diejenigen Staaten, die die meisten Neuankömmlinge zu verzeichnen haben, nicht völlig allein lassen. Auch das hatten europäische Liberale im Vorfeld des Gipfels gefordert. So können Staaten wie Griechenland, Italien oder Spanien freiwillig Zentren errichten, in denen europäische Kollegen gemeinsam mit nationalen Beamten Asylanträge prüfen. Solche Aufnahmelager, in denen EU-Agenturen wie Frontex und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) mit nationalen Kräften zusammenarbeiten, gibt es beispielsweise bereits in Griechenland.

Populisten den Nährboden entziehen

Es ist offensichtlich, dass das Gefühl der Unsicherheit vieler europäischer Bürger, das einige Ministerpräsidenten und Minister zuletzt für ihre Ziele ausnutzten, nicht so sehr von Neuankünften, sondern einer fehlenden und umfassenden Integration von bereits angekommenen Flüchtlingen und Migranten herrührt. Anstatt sich jedoch um diese wichtigen Fragen zu kümmern und allgemein gültige Standards bei Asylvergabe und Integration zu diskutieren, ließen sich die Staats- und Regierungschefs von Scharfmachern treiben.

Vielleicht sollten Liberale das gegenwärtige Momentum europäischer Einigkeit und demonstrativer Entschlossenheit nutzen, um auf europäischer Ebene die Grundlagen für nationale Einwanderungsgesetze voranzutreiben. Dies wäre ein sinnvolles gesamteuropäisches Projekt, dem sich die Innenminister der Mitgliedsstaaten in ihrem Ministerrat annehmen könnten. Hier könnten EU-Richtlinien ein von Liberalen gefordertes verbindliches europäisches Asylsystem umreißen und gleichzeitig dafür sorgen, legale Migrationswege in die EU zu eröffnen und diese in nationalen Gesetzen festzuschreiben.

Nicht nur Deutschland, sondern die Europäische Union als Ganzes überaltert. Um dem entgegenzusteuern, ist der Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten nötig. Auch das sagt der gesunde Menschenverstand. Anstatt also Scheingefechte an Binnen- und Außengrenzen auszutragen, sollten sich die Innenminister darum kümmern, das Zusammenleben im Inneren der EU bestmöglich auszugestalten. Ein verbindliches europäisches Asylsystem gepaart mit einem echten Einwanderungsgesetz – idealerweise in enger Abstimmung mit den europäischen Partnern – wäre die Lösung eine wirklich existierenden Problems.

Markus Kaiser ist stellvertretender Büroleiter des Europäischen und Transatlantischen Dialogprogramms mit Sitz in Brüssel.