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Folgt jetzt der „politische Tsunami“?

Anführer der Straßenproteste rief nach Wahlniederlage zum landesweiten Generalstreik in Armenien auf
Armenien: Folgt jetzt der „politische Tsunami“?

Die Demonstranten halten ihre Forderung aufrecht

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Die Straße hat er hinter sich, die Parlamentsmehrheit nicht. Die Entscheidung fiel am Dienstagabend um 20.48 Uhr: Nikol Pashinyan wurde im armenischen Parlament nicht zum Übergangspremier gewählt. 45 Abgeordnete votierten für, 55 gegen ihn. Es gelang Pashinyan nicht, genügend Parlamentarier aus dem Lager der Regierungspartei auf seine Seite zu ziehen. Verfassungsgemäß muss nun innerhalb von sieben Tagen eine erneute Wahl im Parlament erfolgen.

Seit 10 Uhr tagten am Dienstag die Parlamentarier in einer Marathonsitzung. Die Stimmung überwiegend ruhig bis sehr ruhig, nur selten unterbrochen von emotionellen Redebeiträgen. Nach Fragestunde(n) an den einzigen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten folgten persönliche, nicht enden wollende Erklärungen von Parlamentariern aller Fraktionen, bis es nach knapp neun Stunden zur Abstimmung kam. Nach der Euphorie der letzten Woche und Tage, schien sich Pashinyan seiner Wahl kurz vor der Abstimmung nicht mehr sicher zu sein und warnte vor einem politischen Tsunami, würde er nicht die erforderliche Stimmenmehrheit bekommen.

Parallel zur Parlamentssitzung begaben sich nicht enden wollende Menschenströme in Richtung Platz der Republik in Eriwan. Bereits mittags befanden sich dort mehrere tausend Menschen, die die Sitzung im Parlament live mitverfolgten. Und es kamen immer mehr. Beobachter schätzen die Teilnehmerzahl etwa gleich hoch ein, wie am Tag der Ankündigung des Rücktritts von Ministerpräsident Serzh Sargsyan. Es waren alle Teile der Bevölkerung vertreten. Neben der anstehenden Abstimmung im Parlament wird auch das schöne Wetter und der arbeitsfreie Feiertag „Tag der Arbeit“ viele Familien dazu bewegt haben, das Geschehen im Zentrum der Hauptstadt zu verfolgen. Die Stimmung wie an den Tagen zuvor friedlich und eher mit einem Volksfest – als an revolutionäre Umwälzungen – vergleichbar. Aber es war doch eine gewisse Unsicherheit über den Ausgang im Parlament spürbar, der Optimismus der vergangenen Tage wich bei einigen immer mehr der Erwartung einer für Pashinyan negativen Entscheidung im Parlament. Die Zufahrtsstraßen waren von der Polizei blockiert, um einen reibungslosen Zugang zu gewährleisten. Die Straßen und Kreuzungen in der Innenstadt waren an diesem Tag nicht von Demonstranten blockiert.

Nach Bekanntgabe der Entscheidung war die Stimmung unter den Demonstranten enttäuscht bis deprimiert, schlug aber keineswegs in Verärgerung oder Aggressionen um. Nach der Abstimmungsniederlage rief Pashinyan seine Anhänger, noch im ungewohnten Parlaments-Outfit in Anzug und mit Krawatte, erneut zu Massenprotesten und einem landesweiten Generalstreik auf: „Ab morgen deklariere ich einen landesweiten Generalstreik im Land, in jeder Firma, ohne Ausnahme“, sagte er unter großem Jubel vor seinen Anhängern auf dem Platz der Republik: „Ab 8.15 Uhr werden alle Straße blockiert, auch Züge, die Metro und der Flughafen.“ Ein schönes Bild zum Ende dieses Tages: Eine Gruppe junger Umweltaktivisten machte sich daran, die Müllreste nach der Demonstration von über 100.000 Menschen am Veranstaltungsort zu beseitigen.

Wie geht es nun weiter? Laut Verfassung muss innerhalb von sieben Tagen erneut ein Ministerpräsident gewählt werde. Sollte auch dieser Wahlgang scheitern, kommt es zu Neuwahlen nach spätestens 45 Tagen. Sollte dieser Fall eintreten, stellt sich die Frage, ob die Zeit ausreicht, dass sich alle politischen Kräfte in einem freien und fairen Wettbewerb dem Wählervotum stellen können. Es bestünde die Gefahr, dass die regierende Republikanische Partei mit all ihren Ressourcen – finanziell und in der Verwaltung  – und bewährten Manipulationstechniken  auch diese Wahl zu ihren Gunsten beeinflussen könnte.

Aber vielleicht schafft es ja Pashinyan doch, aus der Regierungspartei die nötigen Stimmen zu gewinnen.  Dann muss es ihm gelingen, eine vom Konsens getragene Übergangsregierung zu formieren, die von der momentanen Massenbewegung auch akzeptiert wird und – wie angekündigt – die Wahlgesetze zu ändern und in Armenien die ersten wirklich freien Wahlen stattfinden zu lassen. Aber auch im Falle seiner Wahl muss ist er als Übergangspremier weiter auf Stimmen der republikanischen Partei angewiesen: Sein innerhalb von 20 Tagen vorzulegendes Regierungsprogramm muss von der Parlamentsmehrheit genehmigt werden.

Es bleibt die Hoffnung, dass wie bisher alles friedlich bleibt und die „totale Blockade“ des Landes nicht zu Provokationen, Kurzschlussreaktionen oder einem massiven Einschreiten der Sicherheitskräfte führt. Die Situation im Land ist angespannter als zuvor und Nikol Pashinyan sollte die Zeit bis zur nächsten Abstimmung nutzen, um Gespräche mit allen Lagern zu führen und auch von einigen radikalen Forderungen abrücken. Es muss ihm gelingen, seinen Nimbus als Volkstribun nicht weiter als Einzelkämpfer in die politische Debatte zu bringen. Es muss eine gemeinsame Lösung gefunden werden. Dass sich in Armenien grundlegend etwas ändern muss, haben inzwischen auch Vertreter der Regierungspartei verstanden und verkündet.

Peter-Andreas Bochmann ist Projektleiter der Stiftung für die Freiheit für den Südkaukasus.

Götz-Martin Rosin arbeitet als freier Journalist in Georgien.