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Polen und die EU
Führt Polens Regierung das Land in den „Polexit“?

Teile der nationalkonservativen PiS-Regierungträumen träumen vom Austritt aus der EU

Über die umstrittene Reform des polnischen Verfassungsgerichts soll der Europäische Gerichtshof entscheiden. Was passiert, falls das Gesetz als rechtswidrig erklärt wird? Der polnische Vizeministerpräsident Jarosław Gowin kündigte an, dass Polen ein solches Urteil schlicht missachten werde. Wie schon mehrmals unter der nationalkonservativen PiS-Regierung geistert seither der Begriff des „Polexit“ umher. Läuft Polen tatsächlich Gefahr, Großbritannien zu folgen und die EU zu verlassen?

Der Ursprung der Debatte liegt in der Entscheidung der polnischen Regierung - unter Führung der PiS-Partei - das Verfahren zur Nominierung von Richtern zu ihren Gunsten zu verändern und - möglicherweise rechtswidrig - deren Renteneintrittsalter herabzusetzten. Darauf folgte die altersbedingte Entlassung von 27 der 72 Richter am Verfassungsgericht. Die dadurch frei gewordenen Posten werden seitdem mit parteiloyalen Richtern besetzt, womit die Gewaltenteilung im Land schrittweise ausgehebelt wird.

Gegen das umstrittene Gesetz liegt derzeit eine Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor, die durchaus Chancen auf Erfolg hat. Der polnische Wissenschaftsminister und Vizeministerpräsident Jarosław Gowin entfachte bei einem Interview erneut Diskussionen über einen möglichen „Polexit“ – einen Austritt Polens aus der EU. Polen müsse ein Urteil gegen die Gerichtsreform schlicht missachten, so Gowin, man habe keine andere Wahl. Gowins konservativ-liberale Partei „Porozumienie“ (Einigung) bildet zusammen mit der PiS sowie einer dritten Partei das Wahlbündnis „Vereinigte Rechte“.

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Ministerpräsident Mateusz Morawiecki distanzierte sich mit Verweis auf Gowins Privatmeinung hingegen von einer solch „präzedenzlosen“ Missachtung eines EuGH-Urteils. Die Diskussion erübrige sich, weil man davon ausgehe, dass der EuGH die Reform gutheißen werde. Also ein großes Nein zur Missachtung, jedoch mit kleinen Hintertürchen. Offen bekannte sich bisher kein weiterer Regierungspolitiker zu einem Polexit. Auch Gowin widerrief zwischenzeitlich seine Aussage und erklärte, die Missachtung eines EuGH-Urteils sei noch lange nicht mit einem „Polexit“ gleichzusetzen.

Ein Drittel für den Polexit

Laut repräsentativer Umfragen von März 2018 befürworteten rund 32 Prozent aller Polen einen Austritt aus der EU – eine beachtliche Anzahl, aber eindeutig keine Mehrheit. Allerdings gaben ein Viertel der Befragten an, „unentschieden“ zu sein. Ein Indiz dafür, wie sehr die eurokritische Regierung durch ihren medialen Einfluss die bisher sehr europhile polnische Bevölkerung verunsichert. Zudem dürfte sich die Idee eines Polexit gerade unter Regierungsanhängern einer deutlich größeren Beliebtheit erfreuen, was die strategische Lageeinschätzung der Regierung sicher beeinflussen wird.

Bisher hat die PiS-Regierung bei allen Dementis zum Polexit strikt vermieden, eine tiefere wertebasierte Bindung an die EU zu demonstrieren. So auch beim Parteitag der „Vereinigten Rechten“ am vergangenen Wochenende. In seiner Grundsatzrede betonte der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński, Polen brauche die EU zwar, um den Lebensstandard der Bevölkerung zu erhöhen, aber man wolle nicht die „gesellschaftlichen Krankheiten“ des Westens übernehmen. Kurz: Kaczyński bekämpft das liberale Wertegerüst der EU, das er als „krank“ empfindet. Diese biologistische Formulierung lieferte bereits in der Vergangenheit bei sämtlichen rechtsstaatlich fragwürdigen Maßnahmen der Regierung den ideologischen Unterbau. Bei dieser Formulierung handelt es sich um einen historischen Rückgriff auf die „Gesundung“ („Sanacja“), eine Bezeichnung für die Zeit während der Zweiten Republik nach dem sogenannten „Maiputsch“ von 1926, durch den der ehemalige Präsident Józef  Piłsudski das Land seinerzeit in eine „gelenkte Demokratie“ umwandelte.

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Auch Ministerpräsident Morawiecki betonte in seiner Rede ausschließlich die ökonomischen Vorzüge der EU. Während er weniger stark einen Direktangriff auf die Wertebasis ausübte, lehnte er dennoch „gegenseitiges Schulterklopfen und Gehorsam in der EU“ ab.

Die EU als Finanzier

Viele Kommentatoren befürchten daher zu Recht, dass die polnische Regierung die Bindung zur EU schrittweise unterhöhle, selbst wenn sie offensiv noch keinen Polexit betreibe. Die große Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ bezeichnete das auf dem Parteitag zur Schau gestellte Verhältnis der Regierung zur EU als zynisch. Es funktioniere auf die Dauer nicht, die EU nur als Bankautomat zu betrachten.

Die finanziellen Mittel, die Polen von der EU erhält, scheinen derzeit auch für die PiS-Führung ein Grund zu sein, bei dem Thema Polexit zwar zu provozieren, aber insgesamt vorsichtig zu agieren. Man denkt taktisch: Im Herbst stehen Kommunalwahlen an und die EU-Gelder fließen hauptsächlich an die Kommunen. Vor allem in der Hauptstadt Warschau gibt es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen PiS und der Opposition. Der gemeinsame Bürgermeisterkandidat der Bürgerplattform (PO) und der liberalen Nowoczesna, Rafał Trzaskowski, betonte vor kurzem, dass rund 40 Prozent der Investitionen in Warschau EU-finanziert seien. Eine aggressive Polexit-Position würde PiS bei den Lokalwahlen daher enorm schaden – zumal führende Politiker westlicher EU-Länder, wie etwa der französische Präsident Macron, bereits andeuteten, dass sich dauerhafte Verstöße der polnischen Regierung gegen europäische Werte irgendwann auch finanziell bemerkbar machen könnten.

Noch besteht also keine akute Gefahr eines Polexits. Allerdings könnte die Salamitaktik, mit der die Regierung europäische Werte aktiv konterkariert und die nationalistische Stimmung anheizt, irgendwann eine Eigendynamik freisetzen – ähnlich wie es in Großbritannien bei den Konservativen der Fall war. Der Urteilsspruch des EuGH zur Gerichtsreform könnte somit zu einem Gradmesser für die EU-Treue der polnischen Regierung werden. Sollte der EuGH eine klare Entscheidung gegen die Reform treffen, käme die Regierung nach Gowins Bemerkung kaum ohne Gesichtsverlust aus der Sache heraus. Das macht die Frage des Ausgangs des Gerichtsverfahrens umso spannender.

Dr. Detmar Doering ist Projektleiter für Mitteleuropa und die Baltischen Staaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.