Legal Tech
Gutachten: Legal Tech spielt in deutscher Juristenausbildung keine Rolle
Wo liegt die Zukunft des Rechts? Ersetzen Rechtsautomaten bald Anwälte und Richter oder bleibt der Mensch weiterhin der zentrale Träger der Rechtspflege? Auch in Deutschland wird die Debatte um „Legal Tech“ kontrovers geführt. Zuletzt standen vor allem Fragen um die fortschreitende Automatisierung von Rechtsdienstleistungen im Fokus. Aktuell zeigt die Corona-Krise den Digitalisierungsbedarf und rückt damit verbundene Grundsatzfragen in den Vordergrund.
Eines ist dabei klar: „Legal Tech“ nimmt rechtsgebietsübergreifend Einfluss auf das Berufsbild und die allgemeinen Anforderungen an Juristen. Im Ausbildungsbereich müssen daher bereits heute reagiert werden. Inwieweit muss also „Legal Tech“ in die Curricula grundständiger juristischer Studiengänge aufgenommen werden?
„Der zunehmende Einsatz von Big Data und Entscheidungsalgorithmen im Recht wirft neue ethische Fragen auf, mit denen die JuristInnen von Morgen umgehen können müssen“, schreibt der Autor, Heribert Anzinger, von der Universität Ulm. Für die Studie hat er die Ausbildungsinhalte der 54 deutschsprachigen Jurafakultäten untersucht und mit denen von 75 internationalen Fakultäten, insbesondere aus dem europäischen, nordamerikanischen und asiatischen Raum verglichen.
Dabei zeigt sich für Deutschland ein dringender Handlungsbedarf: Insbesondere müssen schnellstmöglich statistische Methoden („Data Sciences“) und die technischen Grundlagen von „Legal Tech“ in das Pflicht- und Wahlpflichtprogramm sowie den juristischen Vorbereitungsdienst aufgenommen werden. Auch die Methodenkompetenz, Praxisorientierung und Innovationsförderung müssen deutlich verstärkt werden
Insgesamt zeigt die Studie, dass bereits jetzt erhebliche Reformbemühungen erforderlich sind, um die Wettbewerbsfähigkeit des Rechtsstandorts Deutschland und der deutschen AbsolventInnen mittel- und langfristig zu sichern.
I. Einleitung
Parallel zu einer wiederaufflammenden methodenkritischen, rechtstheoretischen, unions- und verfassungsrechtlichen Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen automatisierter Rechtsdienstleistungen, automatisierter juristischer Entscheidungen und einer Algorithmisierung des Rechts, mehren sich die Forderungen nach Aufnahme von „Legal Tech“ in die juristische Ausbildung. Sie werden unabhängig von berufsrechtlichen Standpunkten, Regulierungsüberlegungen und der rechtspolitischen Diskussion um die Zukunft des Anwaltsmonopols erhoben und verbinden sich mit unterschiedlichen Vorstellungen über die Inhalte. Sowohl die Frage nach dem „ob“ als auch nach dem „wie“ der Aufnahme von „Legal Tech“ in die Curricula grundständiger juristischer Studiengänge verdienen eine nähere Betrachtung. Sie ist Gegenstand dieser Studie, die im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Frühjahr 2020 fertiggestellt worden ist.
1. „Legal Tech“?
Der Begriff „Legal Tech“ ist in seiner oft programmatischen Verwendung schillernd und bildet eine Eintrittspforte für vielfältige Reformvorschläge. In dieser Studie wird er im weiten Sinn verwendet, für Software (Programme und Daten), die im Zusammenhang mit Rechtsdienstleistungen, Streitbeilegung und der Ausübung von Hoheitsgewalt eingesetzt werden können. Überlegungen zum Einsatz von Legal Tech beschränken sich nicht auf technische Möglichkeiten der Rechtsautomation. Sie beziehen sich auch auf deren Einsatz als Antwort auf Effizienzerwartungen und Kostendruck im Rechtsdienstleistungsmarkt. Dabei verbinden sie sich mit betriebswirtschaftliche Erwägungen, die den gesamten Prozess der Wertschöpfungskette bei der Erstellung von Rechtsdienstleistungen erfassen, von der Personalgewinnung über Einkauf, Auftrags- und Lieferungsplanung, Produktion, Vertrieb, Produktmanagement und Marketing. Selbst Innovationen, die das Wesen der Rechtsdienstleistung selbst verändern, etwa Legal Design Thinking oder Methoden der Rechtsvisualisierung werden mit dem Begriff Legal Tech assoziiert.
Struktur versprechen drei von Oliver Goodenough entwickelte und häufig zitierte Entwicklungsstufen. Auf der ersten Stufe umfasse Legal Tech nur die Formen computergestützter Büroorganisation und Kommunikationsmittel, auf der zweiten Stufe auch die Technologien, die den Rechtsanwender bei seiner genuin juristischen Tätigkeit unterstützten, ohne den Prozess der Rechtsfindung oder das Geschäftsmodell zu verändern. Auf der dritten Stufe werde der Mensch teilweise ersetzt und das Geschäftsmodell juristischer Dienstleistungen verändert. Im Rechtsmarkt wird der Begriff in seiner ganzen Breite verwendet. Er erfasst Online-Plattformen für die Mandatsakquisition ebenso wie Suchmaschinenoptimierung, Personalgewinnung und Marketing. Er setzt sich in seiner Verwendung fort als Bezeichnung für angepasste Office-Anwendungen, Dokumentenverwaltung, Software zur automatisierten Dokumentenerstellung, Assistenzsysteme zur Vorbereitung juristischer Entscheidungen und zur Lösung konkreter Rechtsfragen, Systeme unterschiedlicher Ausprägungen der Streitbeilegung, Software zur Untersuchung von Vertragstexten, zur Strukturierung von Akten oder des Parteivortrags, zur Visualisierung des Rechts oder eines Sachverhalts. Zu Legal Tech gezählt werden auch Anwendungen der Blockchain-Technologie, Smart Contracts, die Anwendung statistischer Methoden (Data Science) zur Vorhersage richterlicher Entscheidungen und Compliance Management Systeme. Dabei kann Legal Tech der Rechtserkenntnis durch Laien („Legal Empowerments“, „Legal Literacy“) dienen und damit Verbrauchern den Zugang zum Recht eröffnen, etwa in Gestalt lange bekannter juristischer Expertensysteme, oder Anwälten, Schiedsgerichten und staatlichen Gerichten die Fallprüfung erleichtern. Legal Tech kann schließlich in der Gesetzgebung eingesetzt werden, um den Prozess der Gesetzesformulierung zu unterstützen oder elektronische Gesetze bezeichnen, die wenn sie mit Legal Tech in Verwaltung und Rechtsprechung verbunden werden, die Gewaltenteilung in Frage stellen können.
2. Reforminitiativen und Reformfragen
Mit diesem weiten Verständnis erklären sich die ersten Vorschläge zur Aufnahme von Legal Tech in das juristische Studium. Sie kommen aus verschiedenen Richtungen. Günther Oettinger wird für seine Amtszeit als Kommissar für die Digitale Gesellschaft und Wirtschaft das Zitat zugeschrieben, er würde einem jungen Jura-Studierenden raten, ein, zwei Semester Informatik zu besuchen. An verschiedenen Universitäten haben sich studentische Initiative gebildet, die Juristen und Informatikersowie interessierte Studierende aus anderen Fachbereichen in Verbindung bringen wollen und die sich für eine Stärkung von Legal Tech in der Lehre einsetzen. Aus der Praxis mehren sich Einzelstimmen, die kritisieren, Juristen würden immer noch ausgebildet, um mit ihren handwerklichen Fähigkeiten jedes Mal das Rad neu zu erfinden, während der Rechtsmarkt in die Massenfertigung eintritt.
Diese Kritik wirft zuerst die Fragen nach dem notwendigen Aus- und Weiterbildungsbedarf, den erforderlichen Inhalten eines grundständigen juristischen Studiums und einem zeitgemäßen Ausbildungskanon im Rechtsreferendariat auf. Müssen alle Juristinnen und Juristen programmieren lernen, bis hin zur Ausformulierung des Programmcodes? Zählen neben Word-Kenntnissen, auch XML/HTML, die Blockchain-Technologie, die Sprache der Smart Contracts zum Rüstzeug, das an allen juristischen Fakultäten vermittelt werden sollte? Die Aufzählung lässt sich erweitern oder kritisch auf die Frage zurückführen, ob sämtliche Fertigkeiten, die die Praxis juristischer Berufe prägen, an der Universität im Rahmen des Curriculums eines grundständigen juristischen Studiums oder spätestens im Referendariat vermittelt werden müssen. Eine Schulung in Kanzleisoftware ist vielleicht nicht notwendiger Inhalt juristischer Ausbildung. Ernsthafte Auseinandersetzung verdient der Einwand, Legal Tech im Jurastudium widerspreche einer sinnvollen Arbeitsteilung und ein Anwalt, Richter oder Unternehmensjurist müsse nicht notwendig verstehen, was Software macht. Fraglich ist freilich umgekehrt, ob die traditionelle Arbeitsteilung zukunftsweisend ist, dies mit Blick auf einen gewachsenen Wettbewerb der Rechtsordnungen, der auch den Rechtsdienstleistungsmarkt erfasst. Es wäre jedenfalls zu kurz gedacht, sich in Überlegungen zur Zukunft der juristischen Ausbildung darauf zu berufen, es gebe derzeit nur wenige Jobs, die Legal Tech – Kompetenzen voraussetzten und es dauere noch lange bis die neuen Technologien in der Praxis relevant würden. Der Ruf nach Fokussierung, „Juristen sollten Jura machen“, führt ohnehin zu der Frage, was eigentlich die zukünftig praxisrelevanten Methoden der Rechtswissenschaft sind, die das Studium der Rechtswissenschaft vermitteln soll.
Forderungen nach Aufnahme von Legal Tech in die juristische Ausbildung und ihre Kritik treffen auf eine fortwährende Reform der juristischen Ausbildungs- und Prüfungsinhalte. Die jüngsten Initiativen zielen auf eine Rückführung des Prüfungsstoffes und auf ein stärker fokussiertes Pflichtprogramm, in dem neben den drei Fachsäulen auch die Grundlagenfächer berücksichtigt bleiben. Der Koordinierungsausschuss der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister schlägt vor, Legal Tech als Anwendungsfall in das Pflichtprogramm zu integrieren. So sollten Smart Contracts im Vertragsrecht mit abgedeckt werden. Die Verbindung zu den Grundlagenfächern und Schlüsselqualifikationen bleibt unerwähnt.
Fraglich ist, ob diese Fokussierung und Konservierung des traditionellen Fächerkanons den Erwartungen und den Funktionen des Jurastudiums gerecht werden. Die Juristischen Fakultäten sind mit ihrem Auftrag in Forschung und Lehre zugleich Professional School und Ort der kritisch-systematischen Durchdringung des Rechts. Sie sind in der Einheit von Forschung und Lehre Teil des Funktionssystems Recht und Wissenschaft, das sich im deutschen Rechtskreis durch eine besonders enge Verbindung von Wissenschaft und Rechtsprechungspraxis, nicht notwendig von Wissenschaft und Anwaltspraxis auszeichnet.
Vielleicht könnte es genügen, wenn Anwendungen der Blockchain-Technologie und Smart Contracts als Anwendungsfälle des Privatrechts und des Öffentlichen Rechts Aufnahme finden. Den allgemeinen Umgang mit Computertechnik, Internet- und Office-Anwendungen, Recherchetools und Datenbanken könnten Studierende in der Auseinandersetzung mit dem Pflichtstoff und der Fertigung der Hausarbeiten lernen. Es gibt aber auch Bereiche, deren disruptive Wirkung auf den Methodenkanon der Juristen im Studium vorweggenommen werden sollten. Dazu gehören Kenntnisse über maschinelles Lernen und maschinelle Sprachverarbeitung aber auch der Umgang mit statistischen Verfahren. Juristinnen und Juristen sollten wissen, wie Chatbots funktionieren, wenn sie sie einsetzen und wenn sie sich ihnen gegenübersehen und sie müssen mehr als bisher wissen, wie unstrukturierten Massendaten Prognoseentscheidungen entnommen werden können. Würde man aber alle Zutaten von Legal Tech, Sprachverarbeitung, Logik, Mathematik, Statistik, Programmierung und deren Anwendung in Data Science und Machine Learning vollständig in ein juristisches Studium aufnehmen wollen, würde dies den Rahmen des angemessenen Stoffumfanges sprengen. Deshalb ist zwischen Pflicht und Kür zu trennen und zu entscheiden, was sich für Aus-, Fort- und Weiterbildungsprogramme empfiehlt.
3. Aufbau und Ziele der Studie
Erste Gedanken zu den Anforderungen, die der Einsatz von Legal Tech an die Ausbildung zukünftiger Juristinnen und Juristen stellen könnte, sind schon gesammelt worden. Verdienstvoll ist die Initiative des Legal Tech-Unternehmens Lex Superior, der Bundesfachschaftentagung, der European Law Students Association (ELSA) und den Veranstaltern der Branchenmesse Legal ®Evolution, Bedarf und Interessen empirisch zu erfassen. An diese Vorüberlegungen knüpft diese Studie an. Mit dem Ziel, die Grundlage für eine rechtspolitische Diskussion über die notwendigen Ausbildungsinhalte und geeignete Formate zu liefern, werden in vier Schritten zunächst (II.) Veränderungen im Berufsbild und (III.) sich abzeichnende Wege der Digitalisierung des Rechts und alternativer Methoden der Streitvermeidung und Streitbeilegung beschrieben. Daran soll sich (IV.) ausgehend von der traditionellen Struktur der Juristenausbildung in Deutschland eine empirische Auswertung öffentlich sichtbarer Initiativen der Integration von Legal Tech in die juristische Ausbildung anschließen, dies mit dem Ziel, Best Practice – Beispiele zu identifizieren. Eine erste Bestandsaufnahme erfasst die im Deutschen Juristenfakultätentag vereinigten deutschsprachigen juristischen Fakultäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz und die landesrechtlichen Leitbilder des Vorbereitungsdienstes in Deutschland. In einer zweiten Bestandsaufnahme werden zur Identifikation von Handlungsvorbildern sichtbare Initiativen im Ausland an juristischen und technischen Fakultäten analysiert. Besonders in den Blick zu nehmen sind Vorbilder in den Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien, Australien, Singapur, den Niederlanden, Italien, Estland und Finnland. Die Studie fokussiert dabei Ausbildungsprogramme, nicht Forschungsprojekte. Hierauf aufbauend sollen (V.) Schlussfolgerungen zu Inhalten, zu Formaten und zur Einbettung in die juristische Ausbildung gezogen werden. Diese Überlegungen sollen sich entsprechend den Bedürfnissen der aktuellen Praxis in Phasen untergliedern. Zum einen wird es notwendig sein, Ausbildungsprogramme für eine Übergangsphase zu entwickeln, da der technische Fortschritt sich schneller vollziehen wird als sich Ausbildungsprogramme reformieren lassen. Das könnte besondere Masterstudiengänge oder Zertifikatsprogramme erforderlich machen. Langfristig sollten Legal Tech und möglicherweise auch grundlegende statistische Methoden der Data Science an geeigneten Stellen in den Pflicht- und Wahlpflichtstoff grundständiger juristischer Studiengänge integriert werden. Die Studie schließt (VI.) mit Handlungsvorschlägen, die auch den Bundesgesetzgeber adressieren. Kein Gegenstand der Studie sind die aktuelle berufsrechtliche Diskussion und der Vorschlag, im Rechtsdienstleistungsgesetz de lege ferenda eine besondere Sachkundekategorie für Legal Tech-Dienstleister einzuführen.
Die ganze Studie finden Sie hier: