Ukraine
Krieg in der Ukraine – vergessen, aber nicht kalt
In Europa herrscht Krieg. Das wird angesichts der Corona-Pandemie und einer neuerlichen Flüchtlingskrise an der griechisch-türkischen Grenze gerne übersehen. Doch in der Ostukraine sterben immer noch jede Woche Soldaten in einem bewaffneten Konflikt, der eigentlich schon vor fünf Jahren hätte beigelegt werden sollen. Eine Gruppe liberaler Verteidigungsexperten hat sich in Kiew ein Bild gemacht.
Die Vertreter Russlands, der Ukraine und der so genannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk hatten sich unter Vermittlung Deutschlands, Frankreichs und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) schon vor fünf Jahren auf einen Friedensplan verständigt. In den beiden so genannten „Minsker Abkommen“ hatten sie sich zur Umsetzung konkreter Maßnahmen verpflichtet, zum Beispiel zur Einhaltung eines Waffenstillstandes, zum Rückzug schwerer Waffen und der Ausrichtung von Wahlen in den besetzten ukrainischen Gebieten.
Die Umsetzung dieses Friedensplanes ist jedoch größtenteils gescheitert. Die Konfliktparteien konnten sich bislang nicht darauf einigen, in welcher Reihenfolge sie ihre Verpflichtungen erfüllen sollen. So möchte die ukrainische Regierung verständlicherweise erst dann Wahlen in den Separatistengebieten durchführen, nachdem die prorussischen und russischen Streitkräfte ihre Truppen und Waffen abgezogen haben. Russland wiederum bestreitet entgegen allen Beweisen, überhaupt eigene Streitkräfte im Donbas einzusetzen. Ohne politischen Fortschritt schwelen jedoch auch die Kampfhandlungen mit niedriger Intensität weiter. Allein in den Jahren 2018 und 2019 verloren jeweils mehr als 100 ukrainische Soldaten dabei ihr Leben.
Ende des vergangenen Jahres stießen der französische Präsident Emmanuel Macron und sein neu gewähltes ukrainisches Pendant Wolodymyr Selenskyj eine Wiederbelebung des Friedensprozesses an. Nach mehrjähriger Unterbrechung trafen sich daraufhin die Regierungschefs Russlands, der Ukraine, Frankreichs und Deutschlands erstmals im so genannten „Normandie-Format“, um über eine Beilegung des Krieges zu beraten. Dies sorgte in der Ukraine und in Teilen Osteuropas für Hoffnung auf Frieden, aber auch für die Befürchtung, Macron und Selenskyj könnten die Interessen der Ukraine und anderer souveräner Staaten leichtfertig an den russischen Präsidenten Wladimir Putin verraten.
Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit nahm diese Entwicklung zum Anlass, um die Mitglieder ihres Netzwerkes liberaler Verteidigungsexperten zu einem Austausch mit ukrainischen Gesprächspartnern nach Kiew einzuladen. Die Gäste aus 12 Mitgliedstaaten der Europäischen Union informierten sich während eines dreitägigen Besuchs aus erster Hand über die aktuellen Herausforderungen und Bedürfnisse der Ukraine und entwickelten die Positionen ihrer Parteien entsprechend weiter.
Dabei lernten die Teilnehmer zunächst, ihre Worte richtig zu wählen. Der ehemalige Außenminister Pawlo Klimkin schärfte Ihnen ein, in Zukunft nicht mehr von der „Ukraine-Krise“ zu sprechen. Erstens, so Klimkin, könne es sich nicht nur um eine Krise handeln, wenn bereits mehr als 13.000 Menschen in diesem Konflikt zu Tode gekommen seien und Russland mehrere militärische Großverbände jahrelang für einen Einsatz an der Grenze zur Ukraine vorhalten würde.
Zweitens, so hatte der ukrainische Präsident Selenskyj bereits bei seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar betont, sei der Krieg in der Ukraine keinesfalls nur ein lokaler, sondern ein europäischer Krieg. Seine Auswirkungen betreffen in der Tat ganz Europa. Dies zeigte sich besonders dramatisch beim Abschuss des Malaysia Airlines Fluges MH17, bei dem 298 Menschen getötet wurden. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind auch betroffen, wenn Russland, wie zuletzt verstärkt geschehen, die zivile Schifffahrt im Schwarzen Meer behindert. Darüber hinaus droht die Glaubwürdigkeit der EU als Partner in den Augen jener Staaten zu leiden, die sich politisch und geografisch zwischen Russland und der EU befinden.
Der Ukraine-Konflikt kann also mit guten Gründen als „europäischer Krieg“ bezeichnet werden. Für dessen Fortsetzung oder Beilegung gibt es verschiedene Szenarien. Wenn auch eine große militärische Eskalation nicht unmittelbar bevorzustehen scheint, rechnet in Kiew kaum jemand mit einem Ende der Kampfhandlungen. Wahrscheinlicher scheint ein Einfrieren der gegenwärtigen Situation im Donbas auf unbestimmte Zeit. Jedoch ist nach Einschätzung von Beobachtern auch eine Ausweitung der Auseinandersetzung auf andere Regionen, vor allem auf das Schwarze Meer, nicht unrealistisch.
Mykhailo Samus vom Centre for Army, Conversion and Disarmament Studies weist im Gespräch darauf hin, dass Russland dort zunehmend aggressive Bestrebungen zeige. Für internationale Aufmerksamkeit sorgte ein Vorfall im November 2018, als die russische Küstenwache drei ukrainische Marineschiffe an der Passage durch die Straße von Kertsch ins Asowsche Meer hinderte und 24 Matrosen gefangen nahm. Die Straße von Kertsch und das Asowsche Meer sind die einzige Zufahrt zu den ukrainischen Häfen Mariupol und Berdjansk.
Laut Samus könnte Russland eine so genannte „Boa-Constrictor-Strategie“ anwenden und auch die Zufahrt zu den ukrainischen Häfen westlich der Krim, z.B. nach Odessa, abschnüren. Dazu könnte es eine Reihe von ehemals ukrainischen Bohrplattformen nutzen, die es im Zuge der Annexion der Krim erbeutet hat. Im schlimmsten Fall würde die Ukraine dann praktisch zu einem Binnenstaat werden und wäre vom internationalen Seeverkehr abgeschnitten. Die ukrainische Regierung investiert vor diesem Hintergrund gerade in ihre marode Marine.
Ob sich solche Entwicklungen am Verhandlungstisch abwenden lassen, bleibt ungewiss, zumal Russland auch in den bisherigen Normandie-Gesprächen nie als Kriegspartei, sondern immer nur als Vermittler aufgetreten ist. Anna Frolova, bis vor kurzem stellvertretende Verteidigungsministerin, wirft Wladimir Putin in der Diskussion mit den Gästen vor, an der Lösung des Konflikts nicht interessiert zu sein. Ihrer Ansicht nach geht es der russischen Regierung nur darum, die Ukraine zu schwächen und an einem Beitritt zu EU und NATO zu hindern.
Der neue ukrainische Präsident Selenskyj hat seinen Landsleuten Frieden versprochen. Die Experten in Kiew sind sich uneinig, ob er dieses Versprechen halten kann. Fest steht allerdings, dass die Ukrainer den Frieden nicht zu jedem Preis wollen. Als Selenskyj vergangene Woche ankündigte, als erster ukrainischer Präsident seit Kriegsausbruch mit den Rebellenführern aus den Separatistengebieten in Donezk und Luhansk verhandeln zu wollen, gingen in Kiew Tausende auf die Straße – trotz der Ansteckungsgefahr durch das Corona-Virus, die übrigens vorerst auch eine Fortsetzung der Normandie-Gespräche verhindert.
Die EU und die NATO sollten in dieser Situation ihre Unterstützung für die Ukraine aufrechterhalten und ausweiten. Beide Organisationen lehnen eine direkte militärische Einmischung aus guten Gründen ab. Doch auch mit Sanktionen und militärischen Übungen können sie viel erreichen.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben bei der Verhängung und Durchsetzung ihrer Sanktionen gegenüber Russland selten beobachtete Einigkeit und Konsequenz bewiesen. Sie sollten ihre klare Haltung allerdings nicht nur beibehalten, sondern auch transparente Kriterien für eine Verschärfung der Sanktionen im Falle einer weiteren Eskalation durch Russland definieren.
Die NATO und ihre Mitgliedstaaten betreiben zahlreiche Projekte zur logistischen und technischen Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte. Sie könnten durch „freedom of navigation“-Übungen, also durch friedliche Passagen eigener Seestreitkräfte, außerdem ihren Willen demonstrieren, die internationalen Seewege im Schwarzen Meer zu schützen.
Nicht zuletzt sollten die internationalen Partner der Ukraine dabei den Rücken stärken, auf einem Abzug aller Kämpfer und Waffen sowie der Wiederherstellung der ukrainischen Kontrolle über ihre Grenze zu Russland zu bestehen, bevor an Wahlen in den jetzt besetzten Gebieten zu denken ist. Alles andere wäre keine Friedenslösung, sondern ein direktes Einfallstor für russischen Einfluss auf die Kiewer Politik.
Offen bleibt, wie sich das Corona-Virus als neuer Faktor auf den Krieg in der Ukraine auswirkt. Beobachten lässt sich bereits eine massive Verbreitung von Desinformation und Verschwörungstheorien etwa zur Herkunft des Virus, die zum großen Teil aus Russland gestreut werden. Einige Beobachter fürchten, dass die sehr strikten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in der Ukraine und das damit einhergehende Demonstrationsverbot auch als Schutzmantel für schrittweise Zugeständnisse an Moskau missbraucht werden könnten. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob diese Befürchtungen berechtigt sind, und was die Epidemie für die Fortsetzung der Kampfhandlungen bedeutet.
Beate Apelt ist Projektleiterin für die Ukraine und Belarus mit Sitz in Kiew.
Sebastian Vagt ist European Affairs Manager und leitet den Expert Hub für sicherheitspolitischen Dialog der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.